Newroz-Feiern in Kurdistan

Millionen Kurdinnen und Kurden feiern in diesen Tagen ihr Neujahrs- und Freiheitsfest Newroz. Während es in der Türkei bislang zu keinen großen Polizeiangriffen auf die Feste kam, geht die Repression gegen AktivistInnen der legalen Partei für Frieden und Demokratie BDP dennoch weiter. Aus Deutschland sind Menschenrechtsdelegationen zur Beobachtung der Feste in Kurdistan.

Millionen Kurdinnen und Kurden in aller Welt feiern heute ihr Neujahrs- und Freiheitsfest Newroz. In mehreren kurdischen Städten der Türkei fanden bereits in den letzten Tagen Newroz-Feste statt. Der Newroz-Marathon begann am Mittwoch mit rund 100.000 TeilnehmerInnen in der Stadt Yüksekova an der türkisch-iranischen Grenze. Heute finden die großen Abschlussveranstaltungen in Diyarbakir und Istanbul statt, zu denen jeweils viele Hunderttausend TeilnehmerInnen erwartet werden. In Deutschland beteiligten sich gestern zwischen 30. und 40.000 Menschen an einer Newroz-Demonstration der Föderation Kurdischer Vereine YekKom in Düsseldorf. Auf allen Newroz-Feiern erklärten kurdische PolitikerInnen ihre Bereitschaft zu einem würdigen Frieden, der die Anerkennung der kurdischen Identität durch den türkischen Staat zur Voraussetzung hat. In den kurdischen Städten zeigten viele Festivalteilnehmer Bilder des gefangenen Politikers Abdullah Öcalan und ließen in Sprechchören die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans PKK hochleben. Während es bislang zu keinen größeren Polizeiangriffen auf die Newrozfeste kam, wurden in den letzten Tagen eine ganze Reihe von Aktivisten der legalen prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie BDP in Vorbeugehaft genommen.
Aus Deutschland und Europa sind mehrere Menschenrechtsdelegationen zur Beobachtung der Newroz-Feste in die Türkei gereist. Neben der Beobachtung der Feste sprechen diese Delegationen auch mit VertreterInnen zivilgesellschaftlicher Organisationen über die Menschenrechtslage. Erste Berichte einer Delegation mit AktivistInnen aus Berlin und Hamburg sind hier:

19.03.2010 (erster Teil) Das Dorf Kel

Wir besuchten das Dorf Kel 130 km nördlich der zweitgrößten kurdischen Metropole Van (700000 EinwohnerInnen) nahe der Stadt Caldiran (15.000 EinwohnerInnen).

Dort richteten Sondereinheiten des türkischen Militärs (Özel Teams) am 7. Oktober drei junge Menschen zwischen 17 und 20 Jahren auf brutalste Weise extralegal hin.

Einheiten der Jandarma hatten sie während einer Razzia im Dorf, auf der Flucht festgenommen. Zwei der Hingerichteten waren Guerilla, einer ein Dorfbewohner. Die Soldaten der Jandarma übergaben die Gefangenen noch am Ort der Festnahme den Sondereinheiten, die sie dann, nach bestialischer Folter in einer Schlucht (ca. 500m vom Dorf entfernt gelegen) mit Gewehrsalven hinrichteten.

Die Jugendlichen waren nach übereinstimmenden Aussagen mehrerer Augenzeugen unbewaffnet. Der Tathergang konnte aufgrund von über 30 Metern verteilten Blutspuren und Körperresten ziemlich detailliert rekonstruiert werden. Bei den Leichen wurden die Finger und Schädel zertrümmert. Dorfbewohner berichteten von mehreren Gewehrsalven, die eine Weile nach der Verschleppung der Opfer, aus Richtung der Schlucht zu hören waren.

Dutzende Soldaten beobachteten das gesamte Geschehen. Einer von Ihnen berichtete anonym darüber. Er sagte unter anderem, dass die beiden Guerilla zu den Sondereinheiten sagten, dass sie sie selbst zwar töten könnten, den siebzehnjährigen Ibrahim Atabay aber in Ruhe lassen sollten, ihn nicht foltern oder töten sollten, da er unschuldig sei.

Die Familienmitglieder, die ihre Angehörigen nach längerer Ungewissheit über den Aufenthalt der Leichen sehen konnten berichteten, dass deren Körper, über die beschriebenen Folterspuren hinaus von Kugeln durchsiebt waren.

Gleichzeitig zur extralegalen Hinrichtung, wurden ein Bruder und ein Onkel von Ibrahim Atabay, in einem Haus der Familie misshandelt und gefoltert. Während der Bruder Ibrahim Atabays, nach 41 Haft vorläufig wieder entlassen worden war, ist der Onkel seitdem ist F-Typ Gefängnis von Van ohne Anklageerhebung inhaftiert.

Ein Mahnmal, dass die DorfbewohnerInnen zum Andenken an die Ermordeten in der betreffenden Schlucht errichteten, wurde auf Weisung des türkischen Innenministers, Besir Atalay, von 730 Jandarma mit Hilfe eines Baggers unter „Bewachung“ mit schweren Geschützen und Panzern eingerissen. Die Familie Atabay ist wegen Errichtung des Mahnmals mit einem Gerichtsverfahren konfrontiert.

Die Akte über die Täter wurde unterdessen vom Gericht geschlossen.

Auf eine Parlamentsanfrage der Abgeordneten Fatma Kurtulan, antwortete das Innenministerium, den erwiesenen Tatsachen widersprechend, der 17jährige Schüler Ibraham Atabay wäre 34 Jahre alt, PKK Kader und bewaffnet gewesen.

Die betroffene Familie lebt seitdem in ständiger Angst vor weiteren Morden. Selbst deren Rechtsanwalt ist ständigen Drohungen ausgesetzt und kann daher keine effektive Wahrnehmung der Interessen der Atabays umsetzen.

Die Mitglieder der Familie wurden seit der Tat mehrmals von unterschiedlichen Sicherheitskräften und Militärs bedroht. Zudem werden sämtliche Häuser des Dorfes zwischen einmal in der Woche und einmal im Monat, jeweils von einem großen Aufgebot von „Sicherheitskräften“ durchsucht.

Die meist brutale und, neben der angestrebten Abschreckung, auf Zerstörung der Wohnungseinrichtungen abzielende Durchsuchung ganzer Dörfer ist in dieser Region eine übliche Praxis. Auch die gezielte, sich wiederholende Durchsuchung von Häusern politisch Tätiger ist hier ein gängiges Mittel der Repression. Die Durchsuchung ganzer Dörfer ist auch auf die Spaltung der Gemeinschaften ausgelegt, da seitens der Sicherheitskräfte Schuldzuweisungen gegenüber einzelnen EinwohnerInnen gemacht werden.

„Die extralegalen Hinrichtungen in Gele sind ein Zeugnis von barbarischem, menschenunwürdigem Verhalten. Eine Verschleierung der Taten, wie sie staatlicherseits vorgenommen wird ist nicht hinnehmbar. Die Morde müssen aufgeklärt werden. Folter und extralegale Hinrichtungen nehmen in der Türkei erneut besorgniserregend zu. Seit Jahren bemüht sich die kurdische Seite um eine friedliche Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts. Die AKP Regierung wäre nun gefragt ernsthafte Schritte für eine wirkliche Demokratisierung und die Einhaltung internationaler menschenrechtlicher Standards zu unternehmen, anstatt die Kriminalisierung der VertreterInnen der kurdischen Bevölkerung fortzusetzen und eine militärische Vernichtung der seit Jahren friedensbereiten Guerilla anzustreben.“

19.03.2010 (zweiter Teil) Newroz

Wir besuchten das kurdische Frühjahrsfest Newrozfest in Caldiran. Die Stimmung auf dem Festivalgelände, nahe dem Stadtzentrum war kraftvoll und kämpferisch. Die ca. 2000 TeilnehmerInnen riefen Parolen für Freiheit, Frieden und das Recht auf Widerstand gegen Repression und Krieg.

Immer wieder war auch Kritik an der Verhaftungswelle in Belgien, Frankreich und Italien, sowie den Fernsehsender Roj TV zu hören. Zudem wurde der Respekt gegenüber Abdullah Öcalan zum Ausdruck gebracht und Guerillalieder gespielt.

Wir hielten ein (im Folgenden dokumentierten) Grußwort, das seitens der NewrozteilnehmerInnen mit großer Freude und Solidarität begrüßt wurde.

Auch in einer AKP regierten Kleinstadt wie Caldiran, lassen sich die Menschen scheinbar nicht von dem ungeheuren Repressionsdruck in der Region abschrecken. Neben dem kraftvollen Newrozfest waren in der ganzen Stadt Parolen gesprühte politische Parolen zu sehen, die u.a. die Solidarität mit der Guerilla ausdrückten.

Die Kommunalwahlen 2009, wurden Berichten zufolge von massivem Wahlbetrug überschattet. Ein in Caldiran ansässiger Cousin des ehemaligen Vorsitzenden der neoliberalen Gencpartei, erbte nach dessen Flucht ins Ausland, aufgrund massiver Korruptionsvorwürfe, die Hotelkette Rixon (u.a. mit mehreren Hotelanlagen in Antalya). Mit den daraus abgeschöpften Geldern wurden Versprechungen gemacht und Menschen bestochen.

Beim BDP Büro in Caldioran wurde in der Nacht vor dem Newrozfest (am 18.03) eine Scheibe von unbekannten eingeworfen. In dieser Region ist das, Berichten zufolge, eine übliche Praxis, der versuchten Einschüchterung gegenüber der BDP, durch in zivil oder vermummt auftretende „Sicherheitskäfte.“

Bericht vom 18.03.10

Unsere Delegation erreichte am 18.03. die Provinzhauptstadt Van. Im Vorfeld des Newrozfestes führten wir Gespräche u.a. mit der Bürgermeisterin der Gemeinde Bostanci, dem Bürgermeister der Stadt Van und Vertretern der Anwält_innenkammer.

Bisher war die Lage, auch bei den Newroz Vorfeiern, unserer Erkenntnisse nach ruhig. Dies bedeutet nach Aussagen unserer Ansprechpartner_innen, jedoch keine Minderung der Repression. In Siirt wurden beispielsweise in den letzten Tagen wieder mehrere Verhaftungen nach dem “Antiterrorgesetz”, die als Teil der andauernden Repressionswelle zu sehen sind durchgeführt. Wie uns die Vertreter der Anwält_innenkammer bestätigten, sitzen beispielsweise von über 3000 im letzten Jahr festgenommenen DTP und BDP Funktionär_innen immer noch 1500 teilweise seit mittlerweile fast einem Jahr, ohne Anklageerhebung in Untersuchungshaft. Seit 2006 wird gerichtlich bei kurdischen Spontankundgebungen davon Ausgegangen, dass diese auf Befehl der PKK stattfinden und deshalb Teilnehmer_innen mit Mitgliedschaft, bzw. Propaganda für eine illegale Organisation zu langjährigen Haftstrafen verurteilt werden. Besonders Kinder trifft diese Repression, so werden sie unter Benutzung des so genannten Anti-Terrorgesetzes oft zu höheren Haftstrafen verurteilt als Erwachsene. Die Gefängnisse sind aufgrund der andauernden Repressionswelle mehr als doppelt überbelegt. Z.B. Sitzen in einem F-Typ Gefängnis, dass für 400 Gefangene ausgelegt ist mehr als 700 Gefangene.

Aus der Stadt Van sind mehr als 80 Personen aus BDP in Haft. Darüber hinaus weitere 500 politische Aktivist_innen. In Van, wie andernorts auch, sind in vielen Bereichen deshalb die Stadtverwaltungen der BDP und insbesondere die Strukturen der Selbstverwaltung behindert.

In kleineren Städten wie der Stadt Van-Bostanci herrscht eine verschärfte Repression. In dieser Stadt, mit 21.000 Einwohner_innen leben 17600 vor den Angriffen des türkischen Militärs geflohene Menschen – Und das in permanenter Angst vor willkürlicher Repression, Durchsuchungen und Festnahmen.
Viele unserer Gesprächspartner_innen betonten, dass der Widerspruch zwischen der offensichtlichen heftigen Repression im Allgemeinen und der scheinbaren Ruhe rund um Newroz im Speziellen, im verhältnismäßig großen internationalen öffentlichen Interesse an den Newroz Festen begründet sei. Die AKP wolle sich im Ausland als demokratische Kraft präsentieren, während sie in Wirklichkeit die kurdische Bewegung, die nicht den staatlichen Vorgaben folgt, politisch, juristisch und militärisch zu vernichten versucht. Aufgrund dieser Doppelzüngigkeit der AKP und der andauernden Repression sehen viele in naher keine Perspektive auf Verbesserung der Lage.
In der Wahrnehmung der Menschen hat sich zwar die Brutalität im Vergleich zu den neunziger Jahren verändert – aber die Repression hat in Bezug auf politische und kulturelle Organisierung und das nutzen der eigenen Sprache sogar zugenommen.

Newroz Delegation mit Teilnehmer_Innen aus Berlin und Hamburg

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