Jenseits von Gewalt und Gewaltlosigkeit – Widerstand als Kultur

intifada Jenseits von Gewalt und Gewaltlosigkeit   Widerstand als Kultur

Widerstand ist nicht einfach eine Schar von bewaffneten Männern in versessener Ausrichtung auf maximalen Schaden. Er wird nicht einfach durch eine Terroristenzelle verkörpert, die an Plänen zur Sprengung eines Gebäudes arbeitet. Echter Widerstand ist eine Kultur.

von Ramzy Baroud

Es ist eine kollektive Reaktion auf Unterdrückung.

Widerstand grundsätzlich und umfassend zu verstehen ist nicht einfach. Kein noch so gründlicher Nachrichtenartikel könnte erläutern, warum ein Volk als Volk Widerstand leistet. Selbst wenn eine solch mühselige Aufgabe lösbar wäre, würden die Nachrichten sie nicht bringen, weil dies in direktem Widerspruch mit der etablierten Interpretationen von gewaltsamem und gewaltfreiem Widerstand steht. Die Nachrichten aus Afghanistan müssen der gleichen Sprache verpflichtet bleiben: al-Kaida und der Taliban.

Libanon muss dargestellt werden im Rahmen einer von Iran unterstützen Hizbullah. Palästinas Hamas muss für immer als militante Gruppe repräsentiert werden, die sich der Zerstörung des jüdischen Staates verschworen hat. Jeglicher Versuch, eine alternative Lesart anzubieten, grenzt an ein Sympathisieren mit Terroristen und der Rechtfertigung von Gewalt.

Die gewollte Verschmelzung und der Missbrauch von Terminologie haben es beinahe unmöglich gemacht, blutige Konflikte zu verstehen, und so tatsächlich zu lösen.
Selbst diejenigen, die angeblich mit Nationen im Widerstand sympathisieren, tragen zu dieser Verwirrung bei. Aktivisten aus westlichen Ländern neigen zu einem akademischen Verständnis der Geschehnisse akademischen Verständnis in Pakistan, Irak, Libanon und Afghanistan.

So werden bestimmte Ideen fortgesetzt: Selbstmordbomber schlecht, gewaltfreier Widerstand gut; Hamasraketen schlecht, Steinschleudern gut; bewaffneter Widerstand schlecht, Mahnwachen vor dem Roten Kreuz gut. Viele Aktivisten zitieren Martin Luther King Jr., aber nicht Malcolm X. Sie werden ein selektives Verständnis von Gandhi vermitteln, aber nie von Guevara. Dieser angeblich „strategische“ Diskurs hat vielen ein wertvolles Verstehen des Potentials von Widerstand geraubt; [Widerstand] als Konzept und als Kultur.

Zwischen der vereinfachten etablierten Interpretation von Widerstand als gewaltsam und terroristisch und dem ‚alternativen‘ Entstellen einer inspirierenden und dringenden kulturellen Erfahrung, geht [die Sichtweise von] Widerstand als eine Kultur verloren. Die zwei übergeordneten Definitionen bieten nicht mehr als eine enge Beschreibung. Beide weisen den Versuch, Widerstand aus dem Blickpunkt einer Kultur zu erklären, beinahe immer in die Defensive. Folglich hören wir immerwieder die gleichen Äußerungen: Nein, wir sind keine Terroristen; nein, wir sind nicht gewalttätig; nein, Hamas ist nicht mit al-Kaida affiliert; nein, Hizbullah ist kein iranischer Agent.

Ironischerweise sind israelische Autoren, Intellektuelle und Akademiker nicht so ehrlich wie ihre palästinensischen Kollegen, obwohl die ersteren Aggression eher verteidigen und die letzteren ihren Widerstand gegen Aggression verteidigen oder wenigstens zu erklären versuchen. Ironisch ist auch, dass viele anstelle eines Versuchs zu ergründen, warum Menschen Widerstand leisen, lieber debattieren, wie man ihren Widerstand unterdrücken kann.

Wenn ich von Widerstand als Kultur spreche, beziehe ich mich auf Edward Saids Erläuterung von „Kultur als Weg, Auslöschung und Vernichtung zu bekämpfen.“ Wenn Kulturen Widerstand leisten, sind sie nicht auf Intrigen und politische Spielchen aus. Sie setzten Gewalt nicht auf sadistische Weise ein. Ihre Entscheidungen, ob sie sich im bewaffneten Kampf engagieren oder gewaltfreie Methoden einsetzen, ob sie Zivilisten angreifen oder nicht, mit ausländischen Elementen konspirieren oder nicht, sind rein strategisch. Sie sind kaum von direkter Relevanz für das Konzept des Widerstandes an sich.

Wenn Widerstand „die Aktion der Opposition gegen etwas ist, dem man nicht zustimmt oder das man ablehnt,“ dann entwickelt sich eine Kultur des Widerstandes, wenn eine ganze Kultur kollektiv entscheidet, dem abgelehnten Element zu widerstehen – oftmals ist das eine fremde Besatzung. Diese Entscheidung wird nicht kalkulierend getroffen. Sie wird in einem langen Prozess erreicht, in dem das eigene Bewusstsein, das Geltendmachen eigener Ansprüche, Traditionen, kollektive Erfahrungen, Symbole und viele Faktoren auf spezifische Weise miteinander reagieren. Dies kann eine neue Erfahrung für eine Kultur und ihren reichen Erfahrungsschatz aus der Vergangenheit sein, aber es ist ein innerer Prozess.

Beinahe wie eine chemische Reaktion, aber noch komplexer, weil es nicht immer einfach ist, die Elemente zu trennen. So ist es nicht einfach, [die Reaktion] ganz zu verstehen und –im Fall einer einmarschierenden Armee- nicht einfach zu unterdrücken. So habe ich den ersten palästinensischen Aufstand von 1987 zu beschreiben versucht, den ich von Anfang bis Ende in Gaza durchlebt habe:

Man kann nicht einfach bestimmte Daten oder Ereignisse isolieren, die Revolutionen eines Volkes auslösen. Echte kollektive Rebellion kann man nicht rationalisieren in einem stimmigen, logischen Ablauf jenseits von Zeit und Raum; es ist eher eine Kulmination von Erfahrungen, die das Individuum mit dem Kollektiv vereinen, ihr Bewusstsein und Unterbewusstsein, ihre Beziehung zu ihrer unmittelbaren und nicht unmittelbaren Umgebung. All dies prallt aufeinander und explodiert in einen Ausbruch von Wut, der nicht unterdrückt werden kann.“ (Mein Vater War Ein Freiheitskämpfer/My Father Was A Freedomfighter: Gaza’s Untold Story)

Fremde Besetzer bekämpfen den einheimischen Widerstand auf unterschiedliche Weise. Zum Beispiel durch den Einsatz von Gewalt in variierender Stärke, um eine Nation zu disorientieren, zerstören und in gewünschter Weise wiederaufzubauen( Siehe Naomi Kleins „Schockdoktrin“). Eine andere Strategie ist die Schwächung der Komponenten einer Kultur, die ihr die einzigartige Identität und innere Stärke geben – und damit die Fähigkeit einer Kultur zum Widerstand entschärfen. Die erstere [Methode] erfordert Waffengewalt, während letzere durch weiche/indirekte Kontrollmittel erreicht werden kann. Viele Nationen der ‚Dritten Welt‘, die auf ihre Souveränität und Unabhängigkeit stolz sind, exsistieren vielleicht in Wirklichkeit unter Besatzung, aber in Folge ihrer fragmentierten und überwältigten Kulturen- durch Globalisierung zum Beispiel- können sie das Ausmass ihrer Tragödie und Abhängigkeit nicht erfassen.

Andere [Nationen], die sehr wohl unter Besatzung leben, besitzen eine Kultur des Widerstandes, die es den Besetzern unmöglich macht, ihre Ziele zu erreichen.
Während in Gaza die Medien endlos von Raketen und Israels Sicherheit sprechen und debattieren, wer wirklich verantwortlich dafür ist, dass Palästinenser als Geisel im Gazastreifen gehalten werden, kümmert sich niemand um die kleinen Kinder, die in Zelten neben den Ruinen ihrer Häuser leben, die sie in Israels letztem Angriff verloren haben.

Diese Kinder nehmen an der gleichen Kultur des Widerstandes teil, die Gaza im Verlauf von sechs Jahrzehnten erlebt hat. In ihren Heften zeichnen sie Kämpfer mit Gewehren, Kinder mit Schlingen, Frauen mit Fahnen, ebenso drohende israelische Panzer und Kampfflugzeuge, Gräber mit dem Wort „Martyrer“ und zerstörte Häuser. Dazwischen wird das Wort „Sieg“ ständig benutzt.

Als ich den Irak besuchte, sah ich eine örtliche Version dieser Kinderzeichnungen. Und während ich die Malhefte afghanischer Kinder noch nicht gesehen habe, kann ich mir leicht ihren Inhalt vorstellen.

Ramzy Baroud (www.ramzybaroud.net) ist ein international bekannter Kolumnist und Herausgeber des Palestine Chronicle.com. Sein neuestes Buch ist My Father Was a Freedom Fighter: Gaza’s Untold Story (Pluto Press, London), erhältlich bei Amazon.com.

Der englische Originalartikel von Ramzy Baroud erschien am 20. Juli 2010 bei Al-Jazeerah.info.

Übersetzung: Martina Lauer (ISM)

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