Zur Rosa-Luxemburg-Konferenz und Inge Viett

Zur Person von Inge Viett und ihrem Referat auf der diesjährigen Rosa Luxemburg Konferenz.

von Christian Klar

In Europa entwickeln sich schubweise ökonomische Krisen und erfassen in ihren Auswirkungen die Massen. Soziale Proteste wachsen an, außerordentlich wie in Griechenland, Frankreich und Spanien. Seit der internationalen Finanzkrise 2008 ist auch in der breiten öffentlichen Diskussion die Gesellschaftsordnung des Kapitalismus nicht mehr der unhinterfragbare Rahmen. Mit den Widersprüchen in dieser Dimension gerät ganz natürlich die Notwendigkeit der Organisierung von Massenprotesten und deren politischer und strategischer Führung in den Blickpunkt.

Der Zeitpunkt hat sogar etwas historisches, weil die Krisenentwicklung Türen öffnen und ihr Ergebnis vorwiegend von den subjektiven Fähigkeiten der unterdrückten Klassen abhängen wird. Also von ihrem Bewusstsein über die Lage und von ihrem Organisationsgrad. Die oben können schon lange nichts mehr, und wenn die unten auch nicht mehr wollen, kommt die Reife zu großen Veränderungen.

Mit den Möglichkeiten des historischen Moments und mit den Anforderungen an das Niveau von politischer Führung, kommen aber auch die Lasten in den Sinn, die es dabei abzuwerfen gilt. Beispielsweise die vielen Formen des institutionalisierten Klassenkampfs in Europa, die Organisationsformen des Revisionismus, seine Ideologien und sein etabliertes Personal, aber auch die Rucksäcke, die das linksradikale Kleinstgruppenwesen herausgebildet hat, samt seiner informellen Häuptlinge der Autonomie, die sich darin eingerichtet haben, falsche Propheten und Gurus.

Die Rosa-Luxemburg-Konferenz ist jährlich die größte Plattform der deutschen Linken, auf der die politischen Fragen der Zeit diskutiert werden. Hier sagte über die Reife der Zeit dieses Jahr Gáspár Miklós Tamás, ungarischer Philosoph und Politiker, in Bezug auf die entwickelten kapitalistischen Länder: „Es ist zu spät, die bürgerliche Demokratie zusammen mit bürgerlichen Kräften retten zu wollen.“ Hier ließ sich aber auch eine Veteranin der deutschen Stadtguerilla, Inge Viett, auf das Podium einladen, wo sie die Gelegenheit ergriff, eine Kompetenz für die Lösung der großen Fragen der revolutionären Organisation zu behaupten. Sie trug auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz ihre Vorstellungen vor.

Mit den Vorschlägen stehen aber auch die Personen, die sie vortragen, zur Diskussion. Der einzige Zweck von revolutionären Strategien ist es, der Emanzipation der Unterdrückten zu dienen. Zu deren Realität gehört das Betrogenwerden durch das einschlägige Personal der politischen Klasse, und zu ihrem Überleben und zu ihren glücklichen Instinkten gehört der Anspruch auf Integrität derjenigen, die Strategien raus aus dem Leben in Unterdrückung vorschlagen: ist die Motivation die Hingabe an politische Ziele, oder geht es darum, eine Rolle zu spielen.

Das Selbstbild, das Inge Viett nach Ihrer Entlassung aus der Haft, begünstigt durch die Konjunkturen eines linken Marktes, Masche für Masche gestrickt hat, ist falsch. Die Rechnung sollten nicht irgendwann die Dienste der Herrschenden, wenn es ihnen günstig erscheint, lachend präsentieren. Die kritikfähigen Zeitgenossen der heutigen Möglichkeiten für revolutionäre Veränderungen müssen sich solcher Widersprüche rechtzeitig annehmen. Für diejenigen, die die Geschichte von Inge Viett einschließlich ihres Verhaltens in der Illegalität, in der Haftzeit und vor Gericht verfolgt haben, erscheint die Unbescheidenheit, mit der sie Vertrauen erwartet, nicht nur unangebracht, sondern sie muss wachsam machen. Anfang 1997 ist Inge Viett nach sechseinhalb Jahren Haft frei gekommen. Diese phänomenal kurze Haftzeit hatte sie durch einen Kronzeugenrabatt erreicht für ihre Aussagen gegenüber dem BKA und vor Gericht. Den Kronzeugenstatus hatte ihr eigener Verteidiger beantragt. Zuletzt stellte Der Spiegel vom 2.8.2010 Viett in folgenden Kontext: „Zwar hat (im Verlauf der RAF-Geschichte) ein gutes Dutzend Ex-Terroristen ausgesagt, doch bis auf Peter-Jürgen Boock und Inge Viett handelte es sich dabei um untergeordnete Figuren.“ Akten, Gerichtsurteil, Inge Vietts Bücher und ihre Auftritte in unterschiedlichen linken Scenen zeigen eine Frau mit vielen, wandelbaren Gesichtern. Diese Dinge sind alle einfach zu recherchieren. Aber mancher Langweilerverein legt sich, anstatt sich zu ändern, lieber eine Ikone zu, die eine Ausstrahlung von Outlaw und Kampf verspricht. Solche Nachfrage scheint im linken Markt so groß zu sein, dass schon frühere öffentliche Beiträge aus der Linken, die einen Diskussionsbedarf angemeldet haben, einfach weggebissen oder unter der Rubrik „alte Geschichten“ abgetan wurden.

Aber niemand will auf einem „schwachen Moment“ oder Zusammenbruch in der Haft rumreiten. Es geht um den Charakter des Deals mit dem Gericht, der durchdacht und alles andere als eine „Schwäche“ war. In ihm offenbart sich eine Person mit langer politischer Geschichte und Erfahrung, die aber gegenüber der Bedeutung von revolutionärer Hingabe und politischen Überzeugungen skrupellos ist. Ausgehend davon, den Knast abkürzen und danach unbedingt wieder eine Rolle in der Linken spielen zu wollen, hatte Inge Viett die Idee entwickelt, nicht über Beteiligungen von anderen Mitgliedern der illegalen Organisationen an Aktionen zu berichten, sondern „nur“ MfS-Offiziere zu belasten.

Im Laufe der Geschichte der RAF gab es verschiedentlich auch Kontakte zu Offiziellen in der DDR, die zu Beginn der 80er Jahre vor allem der Unterbringung und Legalisierung von einigen ehemaligen RAF-Mitgliedern in der DDR dienten. In geringem Umfang hatte die Beziehung auch eine technische Seite. Bezug darauf nehmend datierte Inge Viett eine Schießübung der RAF auf dem Gebiet der DDR verfälschend so, dass eine Anschuldigung der westdeutschen Justiz gegen DDR-Offizielle ermöglicht wurde, sie hätten Aktionen der RAF unterstützt.* Damit passte sie ihre Aussage an die Bedürfnisse des westdeutschen Staates zur Kriminalisierung der DDR an und lieferte dem Staatsschutz zugleich ein gewünschtes ideologisches Highlight gegen die RAF-Geschichte. Inge Vietts Aussagen waren eine kühle Rechnung auf den traditionellen Antikommunismus der westdeutschen Linken, der eine einzige politische Tragödie ist, Viett aber nützlich schien, weil das Hinhängen von „Stasi-Leuten“ ihr von der West-Linken mit Sicherheit verziehen werden würde. Gleichzeitig arbeitete sie schon an der Formulierung ihrer persönlichen positiven Erfahrungen in der DDR.

Im Urteil vom OLG-Koblenz vom 26. 8. 1992, rechtskräftig seit dem 3. Mai 1993: Das Gericht spricht von Aussagen Vietts schon am 14. und 25. Januar 1991. Weitere Aussagen dann in der Hauptverhandlung. Sie nennt Namen sowohl von RAF-Leuten als auch von MfS-Offizieren. Auf Grundlage ihrer Aussagen wird im März 1991 Haftbefehl gegen 7 ehemalige MfS-Leute erlassen. Besonders würdigt das Gericht das propagandistische Gewicht ihrer Aussagen für die vermutete „Verunsicherung“ der RAF-Gefangenen und der Illegalen.

So viele Gesichter einer einzigen Person. Vor Gericht Kronzeugin und Fehler und Irrtum des bewaffneten Kampfs verkünden. Für die Werbung für ihre Bücher das Talkshow-Gesicht nach ihrer Entlassung. Für die DKP und die Ost-Linke das Feiern der DDR, das Fehlen einer Massenbasis für den bewaffneten Kampf eingeräumt und den Kommunismus im Munde. Für die linksradikale Scene der Auftritt als die Unbeugsame, die nie abgeschworen hat.

Wieso ist das nicht eine Geschichte von vorgestern? Auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz sind die Läufe der Geschichte besprochen worden, von denen viele in die Barbarei zeigen. Und auch von Alternativen ist gesprochen worden. Der Prolet ist vielleicht resigniert, immer noch gehorsam und hat sich viel zu lange für dumm verkaufen lassen. Aber seine Frage nach der Integrität von Leuten, die eine revolutionäre Perspektive vorstellen, ist richtig, weil diese Frage direkt verknüpft ist mit der Fähigkeit zur Überwindung der alten Ordnung. In der heutigen Welt der öffentlichen Meinung und Politikmacherei sind Rolle und Image eher normal, eben der „grundnormale Betrug“, den Inge Viett gerne geißelt und doch selbst als zweite Haut trägt. Aber in einer Perspektive, in der Menschen, und viele Junge darunter, ihren Weg und einen Weg zum Kampf für gesellschaftliche Veränderungen suchen, ist eine ungeklärte Motivation ein Sprengsatz. Ein Arrangieren damit wäre unverantwortlich.

Christian Klar, Januar 2011

* mehr dazu: http://labourhistory.net/raf/documents/0019910702.pdf

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