Muß der Datenvernichtungswut der Behörden per Moratorium ein Riegel vorgeschoben werden? Der Untersuchungsausschuß des Bundestages, der sich mit dem »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU) beschäftigt, geht unterdessen von einer ganz gezielten Spurenvernichtung in den Ämtern aus: »Heute ist nachdrücklich klar geworden: Es gab eine Vertuschungsaktion«, sagte der Ausschußvorsitzende Sebastian Edathy (SPD) am Rande einer nichtöffentlichen Sondersitzung des Gremiums. In Bezugnahme auf – unmittelbar nach Auffliegen des NSU – vom Verfassungsschutz gelöschte V-Mann-Akten teilte der Grünen-Obmann Wolfgang Wieland mit, daß das Innenministerium davon ausgehe, »daß das absichtlich und planvoll geschah«. Ausschußmitglieder aller Parteien fordern unterdessen ein Moratorium, welches die Vernichtung weiterer Aktenbestände in allen Behörden unterbinden soll.
Eigentlich sollte der Ausschuß trotz Sommerpause des Bundestages nur deshalb zusammentreten, um den von Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) eingesetzten Sonderermittler Hans-Georg Engelke zu hören. Engelke untersucht, warum es zur Löschung von Akten mit Bezug zum NSU kommen konnte. Gegen einen Referatsleiter im Bundesamt für Verfassungssschutz (BfV), der wenige Tage nach Auffliegen der Terrorzelle einen Ukas zur Aktenvernichtung erteilte, und gegen zwei seiner direkten Vorgesetzten laufen derzeit Disziplinarverfahren. Doch die Erkenntnisse über immer neue Vorfälle treffen schneller ein, als der Sonderermittler arbeiten kann: Einem Bericht der Stuttgarter Nachrichten vom Donnerstag zufolge hat auch das Bundesinnenministerium nur zehn Tage nach Auffliegen der Zwickauer Terrorzelle einen Befehl zur Löschung von Protokollen erteilt, die Abhörmaßnahmen gegen Neofaschisten enthielten. Die neuerliche Löschaktion, die nach Informationen der jungen Welt von einem Sachbearbeiter direkt aus Friedrichs Haus angeordnet worden sein soll, habe nichts mit dem NSU-Komplex zu tun, teilte das Innenministerium mit. Es habe sich um eine »Routinemaßnahme« nach einer »fristgerechten Sammelanordnung für Löschungsfälle nach Ablauf der Speicherfrist« gehandelt; die zeitliche Nähe zum Ende des NSU sei »Zufall«, zitierte Spiegel online das Ministerium.
Doch daran zweifelte nicht nur Sebastian Edathy. Nach jW-Informationen soll es sich bei den sechs gelöschten Abhöraktionen gegen deutsche Neonazis, die durch das BfV durchgeführt wurden, um sogenannte »G10-Maßnahmen« gehandelt haben. Das »G10-Gesetz« regelt Ausnahmen vom Post- und Fernmeldegeheimnis nach Artikel 10 des Grundgesetzes, die nur bei terroristischen Anschlägen, bewaffneten Angriffen auf die Bundesrepublik Deutschland, Verstößen gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz und ähnlich schweren Delikten zur Anwendung kommen. Im Gegensatz zu üblichen polizeilichen Telefonüberwachungen, den sogenannten »TKÜ-Maßnahmen«, dürfen per Gesetz G-10-Überwachungen lediglich von den Militär-, In- und Auslandsgeheimdiensten beantragt werden.
Die Löschung der sechs Dossiers sei kein Einzelfall, berichtete Spiegel online am Donnerstag: In einer Aufstellung über Vernichtungen von G-10-Protokollen falle auf, daß ab dem Auffliegen der Terrorzelle vergleichsweise viele Dossiers aus dem »Phänomenbereich Rechtsextremismus« gelöscht worden sein sollen. Im November und Dezember 2011 seien weitere 19 Löschungen vorgenommen worden, so das Internetmedium.