Soziale Zeitbombe

Südafrika: Nach dem Massaker von Marikana offenbart sich die Spaltung zwischen Elite und Arbeiterklasse immer stärker

Von Christian Selz
Kirchenmitglieder bei einer Bestattungszeremonie für die er

Kirchenmitglieder bei einer Bestattungszeremonie für die ermordeten Bergarbeiter
Foto: dapd

Es klingt wie eine Groteske, doch für Hunderte Bergarbeiter ist sie bitterer Ernst: Weil die Polizei vor zwei Wochen im Rahmen des Streiks an der Platinmine Marikana 34 Demonstranten erschossen hatte, erhob die südafrikanische Staatsanwaltschaft am Donnerstag Mordanklage gegen 270 Überlebende des Massakers, von denen etliche sogar direkt nach der Entlassung aus dem Krankenhaus verhaftet wurden. Der Vorwurf: Die Kumpel hätten mit ihrem militanten Streik – die Polizei fühlte sich nach eigenen Angaben von traditionellen Waffen wie Speeren und Macheten sowie einer Handfeuerwaffe bedroht – die massenhafte Erschießung ihrer Kollegen ausgelöst und seien somit verantwortlich für deren Tod. Juristische Basis dafür ist ausgerechnet ein Gesetz aus der Apartheid-Zeit, das der heute regierende African National Congress (ANC) einst massiv kritisierte. Nach reichlich politischem Druck zog die Staatsanwaltschaft die Mordanklagen am Sonntag zwar vorläufig zurück und kündigte an, die Gefangenen vorerst freizulassen, endgültig zurückziehen wollte sie die Vorwürfe allerdings nicht. Und auch die politischen Folgen des blutigsten Polizeieinsatzes seit den ersten freien Wahlen des Landes 1994 entfalten sich immer weiter.

Der einflußreiche ANC-Schatzmeister Mathews Phosa, der als möglicher Herausforderer von Staatspräsident Jacob Zuma an der Parteispitze angesehen wird, nannte die Anklageerhebung »rücksichtslos, unangebracht und beinahe absurd« – eine Einschätzung die Verfassungsexperten teilen, die aber für eine weitere Spaltung im ANC sorgte. »Wir brauchen kein weiteres Marikana, wir brauchen kühle Köpfe«, mahnte Phosa dramatisch. Der nicht erst seit dem Massaker zunehmend unterkühlt wirkende Zuma, der einige Opfer vor zwei Wochen noch medienwirksam am Krankenbett besucht hatte, gab dagegen nur zu Protokoll, sich nicht in die Arbeit der Justiz einmischen zu wollen. Wer die Staatsanwaltschaft dann schließlich doch zum Einlenken brachte, ist zwar unklar, deutlich wird allerdings eine weitere Entfremdung der Regierung von den mittellosen Massen des Landes. Mehr als die Hälfte der 50 Millionen Einwohner lebt unter der Armutsgrenze.

Die ANC-Regierung hat in Südafrika seit 1994 den größten Sozialstaat des Kontinents geschaffen. Sie führte ein Kindergeld und Renten für verarmte Alte ein und übergab über drei Millionen Sozialbauhäuser an Familien, die zuvor in Wellblechhütten lebten. Inzwischen jedoch steht sie den Herausforderungen im Kampf gegen die Armut hilflos gegenüber. Ihre Spitzen haben sich entfremdet von den Massen, die einst die Apartheid zum Einsturz brachten. Sie haben sich kaufen lassen von den multinationalen Konzernen, allen voran im Bergbau, wo in gewohnter Regelmäßigkeit die Familiennamen von ANC-Größen in Aufsichtsräten, lukrativen Entwicklungsprojekten für schwarze Unternehmer und Investorenkonsortien auftauchen, während die Bergbaugemeinden noch immer in schäbigen Siedlungen, oft ohne fließendes Wasser und sichere Stromversorgung am Rande der Minen und der Existenz hausen. Die zum in London gelisteten, drittgrößten Platinproduzenten der Welt, Lonmin, gehörende Marikana-Mine ist da nur ein Beispiel.

Gegen die daraus resultierende, landesweit grassierende Wut hat der Staat in den letzten Jahren eine Polizei gestellt, die in ihren Methoden nicht erst seit Marikana immer mehr den berüchtigten Truppen der Apartheid-Regierung ähnelt. Erst Anfang August hatten Johannesburger Polizisten ohne rechtlich vorgeschriebene Vorwarnung eine Armensiedlung nahe des Börsenviertels Sandton dem Erdboden gleichgemacht. Und nicht zuletzt Präsident Zuma selbst hatte vor drei Jahren für Aufsehen gesorgt, als er – frisch im Amt – die Polizei aufforderte bei der Jagd auf Kriminelle »zu schießen, um zu töten«. Das Resultat sind immer gewalttätigere Demonstrationen, die in einen ungleichen Kampf münden: Speere gegen halbautomatische Gewehre, Ohnmacht gegen Macht. Marikana war dabei kein aus dem Ruder gelaufener Arbeitskonflikt, das zeigt allein die Tatsache, daß das Gros der Opfer nicht selbst Bergarbeiter, sondern Arbeitslose waren. Was in Südafrikas Platingürtel explodierte, war die soziale Zeitbombe des Landes – und die dürfte noch viele Zünder für »ein weiteres Marikana« haben, wie nun immerhin Teile des ANC erkannt zu haben scheinen.

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