Der Tod von Hugo Chávez löste in Caracas eine Trauer aus, die in ihrem Ausmaß schwer zu erfassen ist. Ein Aktivist der Interbrigadas beschreibt seine Eindrücke
amerika21.de
Am 5. März 2013 um 16.25 Uhr erlag Hugo Rafael Chávez Frias seinem Krebsleiden. Zweifelsohne kam die Nachricht nicht unerwartet über die Bevölkerung in Caracas und Venezuela. Und dennoch war bis zu diesem Moment schwer vorstellbar, was für Auswirkungen der Tod des Comandante haben würde.
Caracas versank nicht im Chaos. Die Stadt funktionierte einfach. Stur und wie von einer unsichtbaren Macht gelenkt, schienen die Menschen sich auf dem schnellstmöglichen Wege nach Hause zu begeben. Als ob alle zur selben Zeit den selben Befehl erhalten hätten. Wenige Menschen sprachen, während sie sich durch die Straßen zu den Bussen oder U-Bahnen bewegten, und so kam es, dass ich die Nachricht eher zufällig erfuhr, als ein Sicherheitsbeamter vor einem Supermarkt erklärte, dass das Computersystem zusammengebrochen sei, man deswegen nicht einkaufen könne, im nächsten Halbsatz in Tränen ausbrach und schluchzte „Chávez ist tot!“ und der Kundin, die vor ihm stand, in die Arme fiel.
Wenige Minuten später hörte ich die Ansprache von Nicolás Maduro über die Lautsprecher eines am Straßenrand geparkten Taxis gemeinsam mit einer Menschentraube, die sich um das Auto bildete. Der Taxifahrer hatte seinen Dienst eingestellt, die Läden im Zentrum von Caracas schlossen und mehr und mehr Menschen ergossen sich auf die Straßen und machten sich auf den Weg nach Hause. Das Telefonnetz kam bis zum nächsten Morgen zum Erliegen und am nächsten Tag erfuhr man, dass die Nachricht von Chávez Tod eine höhere Mobilfunknetzauslastung erreichte als Silvester.
Etwa zeitgleich versammelten sich Tausende von Menschen am Plaza Bolivar und anderen Plätzen in Caracas. Das Ausmaß der kollektiven Trauer ist schwer in Worte zu fassen. Als ich am Plaza Bolivar ankam, hörte ich schon von Weitem Rufe wie „Chávez lebt! Der Kampf geht weiter!“ und kraftvoll aus Tausenden Kehlen das Lied „Los que mueran por la vida“ (Die, die für das Leben sterben) von Alí Primera, dem 1985 verstorbenen linken Liedermacher und politischen Aktivisten. Hunderte Menschen lagen weinend in den Armen ihrer Freunde, andere umarmten Fremde und wieder andere standen allein, das Gesicht in Tränen zerflossen. Die Trauer der Massen gepaart mit dem entschlossenem Blick in die Zukunft, Parolen wie „Chávez no murió, se multiplicó“ (Chavez starb nicht, er multiplizierte sich) und „Yo soy Chávez“ (Ich bin Chávez).
Hugo Chávez starb im Militärkrankenhaus in Maternidad im Zentrum der Stadt. Er selbst wollte jedoch, so hat er mehrmals betont, in der Militärakademie aufgebahrt werden, in der er selbst als junger Kadett gedient hatte. Diese liegt im Südwesten der Stadt im Stadtteil El Valle an der Paradestraße Los Proceres, welche von Statuen der Unabhängigkeitskämpfer gesäumt wird und dem Kampf gegen die spanische Kolonialmacht gewidmet ist.
Am nächsten Tag wurde Chávez‘ Leichnam aus dem Militärkrankenhaus in die Militärakademie gebracht. In Venezuela ist es nicht unüblich, den Sarg mit einer Prozession zu begleiten, die unter Umständen auch durch ein gesamtes Dorf gehen kann. Im Falle Chávez ist dies nicht anders.
Zwei Millionen Menschen begleiteten den Sarg acht Kilometer über fünf Stunden lang bis zur Militärakademie, wollten ihrem Comandante zum letzten Mal nahe sein, ihre Trauer mit anderen teilen. Zwei Millionen und Millionen weitere an den Fernsehgeräten des Landes drückten ihre unbedingte Anteilnahme und ihren Glauben in den von Hugo Chávez initiierten Prozess des Sozialismus des 21. Jahrhunderts aus. Wo immer der Sarg vorbeizog, brachen Hunderte Menschen gleichzeitig in Tränen aus und versuchten den Sarg zu berühren. Blumen, T-Shirts, Fahnen, Fotos und vieles mehr wurde auf den Sarg gelegt und es ertönten die verschiedensten Parolen wie: „Chávez te lo juro, mi voto es por Maduro“ (Chávez ich schwöre dir, meine Stimme ist für Maduro).
Evo Morales, der Präsident Boliviens, hochrangige Militärs, der Vizepräsident Nicolás Maduro Moros und mehrere Minister und Abgeordnete marschierten geschlossen die gesamte Strecke neben dem Sarg.
Die Stimmung dieses Trauermarsches war, wie schon am Abend zuvor, irgendwo zwischen tiefster Trauer um einen nahen Angehörigen und kämpferischem „Jetzt erst recht!“. „Ahora más que nunca con Chávez“ (Jetzt mehr als je zuvor mit Chavez) wurde zum Schlagwort und Millionen von Menschen verspüren die Notwendigkeit, das Projekt ihres Präsidenten weiterzuführen. Viele sprachen davon, dass er sich hätte schonen müssen nach der ersten Operation, keinen Wahlkampf hätte machen dürfen, um daraufhin sofort zu bekennen, dass man dann wohl die Wahlen am 7. Oktober 2012 verloren hätte. Chávez starb, so sagen viele, Tausende, Millionen wie im Lied von Alí Primera „für das Leben“ und für den Prozess, letztlich für sie.
Der Sarg wurde in den Abendstunden in der Militärakademie aufgebahrt. Evo Morales, Christina Fernandet de Kirchner, die Präsidentin Argentiniens, deren Ehemann vor zwei Jahren ebenfalls an Krebs verstarb, und Pepe Mujica, der Präsident Uruguays hielten minutenlang neben dem Sarg inne, die Familie Chávez, seine Töchter, Enkel, Brüder und seine Mutter, die Minister Venezuelas und Militärs – allesamt weinten sie während ihrer „Ehrenwache“.
Zu später Nacht wurde die sogenannte Capilla Ardiente (feierliche Aufbahrung) in der Militärakademie auch für die Hunderttausenden draußen Wartenden geöffnet. Für die nächsten neun Tage bildeten sie endlos lange Schlangen, um sich von dem verstorbenen Präsidenten verabschieden zu können. Die Menschen standen teilweise über 15 Stunden an – ein Freund wartete 27 Stunden –, um von ihrem aufgebahrten Präsidenten Abschied zu nehmen und an dem Sarg vorbeilaufen zu können, um ihn ein letztes Mal zu sehen.
Am Donnerstag, dem 7. März, reisten 55 Regierungsvertreter der verschiedensten Länder der Welt nach Venezuela und bezeugten ihre Verbundenheit mit Hugo Chávez. In nahezu allen lateinamerikanischen Staaten wurde Staatstrauer verhängt. In Argentinien für drei Tage, in Kuba zwei Tage, in Ecuador drei Tage, in Bolivien für sieben Tage, in China und vielen weiteren Ländern. Die weltweite Anteilnahme sowohl von offizieller Seite als auch durch Privatinitiativen, wie z.B. das Entrollen eines Transparents bei einem italienischen Fußballspiel oder Graffitis in Palästina, zeigen die globale Bedeutung und Tragweite der Politik Hugo Chávez‘ in den letzten 14 Jahren.
Für eine außenstehende Person ist es schwer nachvollziehbar, welche tiefe Emotionalität mit dem Tod des „presidente eterno“ (ewigen Präsidenten) einhergeht. Wir sollten anerkennen, dass dieser Mensch ein Land auf die Bühne der Welt geführt hat, von welchem wir sonst unter Umständen nicht einmal wüssten, wo es liegt. Und dass dieser Mensch eine politische Idee auf demokratische Art und Weise wiederbelebte, die seit dem Mauerfall der Geschichte angehören sollte.
„Sing Compañero, sing, auf dass dein Lied nicht verstummt“ – Ali Primera