Aufruf zur Demonstration in Dessau (Antifaschistische Aktion Burg):
Keine Ruhe für Polizei und Justiz! Oury Jalloh – das war Mord!
Was sich genau am 7. Januar 2005 in dem Dessauer Polizeirevier in der Wolfgangstraße 25 abspielte, ist bis heute nicht bekannt und wird wohl nie vollständig aufgeklärt werden. Sicher ist aber, dass die Ereignisse im Polizeirevier zum Tod des aus Sierra Leone wegen eines Bürgerkriegs nach Deutschland geflüchteten Oury Jalloh führten und auch neun Jahre später die PolizeibeamtInnen, die sich an dem Tag im Revier aufhielten, alles dafür tun, dass es zu keiner lückenlose Aufklärung kommt. Unterstützung bekommen sie dabei von der Justiz, die während den geführten Prozessen gegen mehrere PolizeibeamtInnen u.a. Indizien und Beweise unterschlagen hatte, die auf einen Tötungsdelikt durch Dritte (d.h. PolizeibeamtInnen) hinweisen.
Eine Wende in dem Fall könnte ein erst kürzlich veröffentlichtes, unabhäniges Brandgutachten bringen. Es stellt fest, dass der Brand in der Polizeizelle, in der Oury Jalloh an Händen und Füßen auf einer feuerfesten Matratze fixiert war, nicht von ihm selbst ausgelöst wurden sein konnte. An dieser fragwürdigen These berufen sich aber Staatsanwaltschaft und Gericht. Das neue Gutachten legt dagegen nahe, dass die Verbrennungen an Jallohs Körper nur mit Hilfe von Brandbeschleuniger entstanden sein können. In der Vergangenheit waren Polizei und Justiz alle Mittel recht, um die genauen Todesumstände zu verschleiern. Deshalb ist es weiterhin notwendig, Polizei und Justiz keine Ruhe zu lassen und weiterhin für öffentlichen Druck zu sorgen –die Demonstration am 7. Januar 2014 in Dessau kann dabei ein weiterer Schritt in Richtung Aufklärung sein. Dieser Schritt muss unbedingt gegangen werden.
Oury Jalloh, Mario Bichtemann, Hans Jürgen Rose – Tod im Polizeirevier!
Am frühen Morgen des 7. Januar 2005 bewegt sich der Asylbewerber Oury Jalloh nach einem Besuch in einer Diskothek durch Dessau und spricht gegen 8 Uhr einige Frauen der Stadtreinigung an, ob er mit deren Handy telefonieren dürfe. Die Frauen, die sich durch Jalloh belästigt fühlten, rufen die Polizei. Weniger Minuten später treffen die Streifenpolizisten Hans-Ulrich März und Udo Scheibe in der Dessauer Turmstraße ein, wo sie Jalloh abseits an eine Hauswand gelehnt auffinden. Ohne rechtliche Grundlage nehmen sie ihn fest und fahren mit ihm ins örtliche Polizeirevier. Dort wird er durchsucht und der zuständige Revierarzt befindet ihn, trotz seines stark alkoholisierten Zustandes, für „gewahrsamstauglich“. Jalloh wird in den Keller des Gebäudes in die Zelle Nummer 5 gebracht, wo er auf eine feuerfeste Matratze an Händen und Füßen gefesselt wird. Gegen 12 Uhr ertönt aus derselben Zelle ein Warnsignal des Rauchmelders. Der zuständige Dienstgruppenleiter Andreas Schubert stellt den Alarm mehrfach aus und geht erst mehrere Minuten später in den unteren Bereich des Polizeireviers. Zelle 5 steht da schon komplett in Flammen. Wie es zu diesem Brand kommen konnte und woher Jallohs Nasenbeinbruch sowie der Trommelfellriss rührten, die erst während einer zweiten, extern durchgeführten Autopsie festgestellt wurden, ist bis heute nicht geklärt.
Zwei Jahre und zwei Monate Monate zuvor, im November 2002, kam es zu einem weiteren, bislang ungeklärten Todesfall in dem Dessauer Polizeirevier. Der Obdachlose und zum Zeitpunkt der Festnahme alkoholisierte Mario Bichtemann wurde in der Innenstadt von Dessau, Antoinettenstraße, von der Polizei aufgefunden. Er wurde ins selbe Polizeirevier gebracht und in dieselbe Zelle wie Oury Jalloh gesperrt. 15 Stunden nach der Festnahme wurde Bichtemann mit einem Schädelbasisbruch in der Zelle tot aufgefunden. Revierarzt und Dienstgruppenleiter waren die gleichen Personen, wie später bei Oury Jalloh. Nach dem Tod Mario Bichtemanns wurden ein Schädelbasisbruch und Blutspuren an der Zellenwand festgestellt. Es ist nicht bekannt, wie es dazu kam. Nicht einmal die Zeit des Todes kennt man heute: Zwischen 01.15 und 4 Uhr gab es im Zellenbereich des Polizeireviers keine Kontrollgänge. Schon wegen der Alkoholisierung Bichtemanns hätten sie jede halbe Stunde stattfinden müssen.
Ein weiterer Todesfall unter örtlichem Polizeieinfluss ist unaufgeklärt: Im Dezember 1997 wurde Hans Jürgen Rose wegen Fahrens unter Alkoholeinfluss in das Dessauer Polizeirevier in der Wolfgangstraße 25 gebracht. Rose wurde wenige Stunden nach seiner Festnahme mit schwersten inneren Verletzungen in unmittelbarer Nähe zum Polizeirevier gefunden, er verstarb wenig später aufgrund seiner Verletzungen im Krankenhaus. Nach dem Tod wurden an einer Säule im Speisesaal des Polizeireviers zahlreiche DNA-Spuren festgestellt, die sich Rose zuordnen ließen. Dies und die spezifischen Verletzungen deuten daraufhin, dass Hans Jürgen Rose mit Handschellen gefesselt und in wehrlosem Zustand von der Polizei geschlagen und misshandelt wurde. Das ist freilich nur eine Vermutung, denn die Todesumstände wurden nie geklärt. Fest steht aber, dass mindestens drei Menschen nach der Festnahme durch die Dessauer Polizei gestorben sind. Die beteiligten Polizisten verstrickten sich jedes Mal in Widersprüche.
Aufklärung der Todesfälle unerwünscht – Gedenkinitiative handelt!
In den bisherigen Ermittlungen zu den drei Todesfällen im Dessauer Polizeirevier zwischen 1997 und 2005 gab es stets widersprüchliche Zeugenaussagen der PolizeibeamtInnen, eine vollständigen Klärung der Todesumstände war so durchweg unmöglich. Im Fall Oury Jalloh verschwanden außerdem Beweismittel, die auf eine Einwirkung durch PolizeibeamtInnen hindeuten. Abhanden kamen etwa die Handschellen, mit denen Jalloh in der Zelle fixiert worden war. Damalige Dienstpläne sind nichtmehr auffindbar, genau wie die Videoaufzeichnungen des Gewahrsamsbereichs am Vormittag des 7. Januar 2005 – kurz vor Ausbrechen des Feuers. Weggekommen ist ferner das Fahrtenbuch von Hans-Ulrich März und Udo Scheibe. Sie hatten Jalloh festgenommen und ins Polizeirevier gefahren. März und Scheibe wurden dann kurz vor Ausbrechen des Feuers von ihrem Kollegen Torsten Bock gesehen – beim Betreten der Zelle 5. Im Revisionsverfahren vor dem Magdeburger Landgericht, wo infolge der Angaben von Bock die Polizeibeamten März und Scheibe ein zweites Mal geladen wurden, machten beide widersprüchliche Aussagen. Eine genaue Rekonstruktion des Hergangs ist mangels der Videoaufzeichnung schwierig; das hätte ohnehin ein Bemühen der Staatsanwaltschaft vorausgesetzt, gegen die beiden Beamten genauer zu ermitteln. So ein Bemühen ist so wenig auffindbar wie das schon erwähnte Fahrtenbuch. Mit dessen Hilfe hätte geklärt werden können, ob die Beamten nach der Festnahme Jallohs erneut in Dessau unterwegs waren, denn: Woher kam der Brandbeschleuniger?
Stattdessen beharren Staatsanwaltschaft und Gericht, dass sich Oury Jalloh – mit Händen und Füßen auf eine feuerfeste Matratze geschnallt – mit einem Feuerzeug selbst entzündet hat. Das Feuerzeug hat es in sich: Auf einer ersten Asservatenliste fehlte es und tauchte erst Tage später auf einer zweiten Liste auf. Am Feuerzeug wurden weder Jallohs DNA, noch Fasern von Kleidung oder Matratze festgestellt. Statt diese Merkwürdigkeiten zu klären, sollte in diesem Fall offenbar von vorn herein der schnellstmögliche Schlussstrich gezogen werden. Die Justiz verweigerte sogar die Durchführung von Brandversuchen und vereitelte damit den Versuch, das Geschehen zu rekonstruieren.
Erst ein vor wenigen Wochen veröffentlichtes, unabhäniges Brandgutachten, das im Auftrag der Initiative „In Gedenken an Oury Jalloh“ angefertigt und durch Spenden finanziert wurde, belegt nun, was für viele längst klar war: Oury Jalloh konnte sich nicht selber anzünden – er wurden im Dessauer Polizeirevier umgebracht. Für das Gutachten wurde in zehnmonatiger Arbeit versucht, die Brandsituation in der Polizeizelle nachzubilden. Ergebnis: Nur mit mindestens fünf Litern eines Brandbeschleunigers ist es möglich, vergleichbare Verbrennungen wie bei Oury Jalloh hervorzurufen. Tatsächlich wurden in der Zelle Stoffe nachgewiesen, die auf den Einsatz von Brandbeschleuniger hindeuten. Wegen dieser neuen Erkenntnisse erstatteten die Initiative „In Gedenken an Oury Jalloh“ und mehrere Einzelpersonen am 11. November 2013 beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe Strafanzeige wegen Totschlags oder Mord.
Eine Stadt ist sich einig – das Problem steht fest!
Kaum jemand in Dessau, der nicht in unmittelbarer Nähe zur Gedenkinitiative steht, sieht ein Problem in den unaufgeklärten Todesfällen im Polizeirevier. Fast niemand interessiert sich für eine lückenlose Aufklärung und steht dem Verhalten von Stadt, Polizei und Behörden kritisch gegenüber. Vielmehr werden die, die das Schweigen brechen, als Problem angesehen, die das Ansehen der Stadt gefährden und die Ruhe stören. Wer in Dessau Gerechtigkeit und Aufklärung im Fall Oury Jalloh fordert, wird diffamiert, bedroht und sogar angegriffen. Ein Beispiel dafür ist der seit Jahren anhaltende Terror gegen das Telecafé, ein Treffpunkt für MigrantInnen, das von Mouctar Bah betrieben wird. Anfang 2006 versuchte das Ordnungsamt Dessau diesen Treffpunkt zu schließen, indem man dem Betreiber die Gewerbelizenz entzog. Grund dafür sollte laut Amt sein, dass Mouctar Bah in seinem Laden auch Menschen dulden würde, die in Dessau – angeblich – Drogen verkaufen würden. Im Dezember 2009 drangen Polizisten ohne richterlichen Durchsuchungsbeschluss in das Telecafé ein und durchsuchten es über mehrere Stunden. Erneut musste das Thema „Drogen“ für diese Kriminalisierung herhalten. In rassistischer Manier wurde damit auf die zum Großteil afrikanischen BesucherInnen des Cafés gezielt. So haltlos wie die Vorwürfe 2006 waren, so erfolglos war auch die Durchsuchung 2009 und es konnten keine Drogen gefunden werden. Erst vor wenigen Wochen wurde eine Fensterscheibe des Cafés zerstört.
Ein weiteres Beispiel für Bedrohungen und Angriffe sind die Ereignisse rund den 7. Januar 2012, als in Gedenken an Oury Jalloh eine Demonstration in Dessau stattfand. Die TeilnehmerInnen wurden von der Polizei mehrmals angegriffen, und zwar mit der lächerlichen Begründung, dass Transparente und Sprechchöre, die auf die Ermordung Jallohs hinweisen, strafbar seien. Zwei Teilnehmende, unter anderem Mouctar Bah, wurden von der Polizei so heftig angegriffen, dass sie bewusstlos zu Boden gingen und mehrere Tage im Krankenhaus bleiben mussten. Schon einige Tage vor der Demonstration suchten schon mehrere Polizisten das Telecafé auf und machten deutlich, dass sie es nicht zulassen würden, wenn auf der Demo der Spruch „Oury Jalloh – das war Mord!“ gezeigt oder gerufen wird. Fast zwei Jahre nach diesem brutalen Angriff stehen freilich nicht die Polizisten vor Gericht, die willkürlich auf DemoteilnehmerInnen eingeschlagen haben, sondern vielmehr der von der Polizei zusammengeschlagene Mouctar Bah. Gegen ihn wird obendrein wegen „Widerstands gegen Polizeibeamte“ ermittelt.
Wo auf der einen Seite in Dessau alles Erdenkliche unternommen wird, um Menschen zu kriminalisieren, die sich für eine Aufklärung im Todesfall von Oury Jalloh einsetzen, wird es auf der anderen Seite Nazis und RassistInnen möglich gemacht, ungestört durch die Stadt zu ziehen und ihre rassistische Hetze zu verbreiten. So marschierten am 16. Januar 2012 bis zu 400 Menschen, unter ihnen viele Neonazis, durch Dessau und skandierten Sprechchöre wie „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!“. Anlass für diesen Aufmarsch, der sich bereits wenige Tage später wiederholen sollte, war eine Auseinandersetzung zwischen einem Migranten und einem so genannten Deutschen, der beim Fußballverein „ASG Vorwärts Dessau“ spielt. Ein Teil der Spieler und Fans des Vereins waren schon desöfteren durch rassistische und faschistische Aktivitäten aufgefallen. Stadt und Behörden unternahmen trotzdem nichts, um diesen Aufmarsch zu verhindern – die Polizei leitete den Verkehr, damit es Nazis und RassistInnen möglich ist, ungestört durch Dessau zu marschieren. Das ist schon Routine, denn seit Jahren findet immer im März ein sogenannter „Trauermarsch“ statt, bei dem Nazis die Bombardierung der Stadt im Zweiten Weltkrieg beklagen und Täter zu Opfern machen. Im Gegensatz zur Initiative „In Gedenken an Oury Jalloh“ werden Nazi-Aktionen offenbar nicht als Gefahr für das Ansehen der Stadt gewertet, sondern durchgeprügelt.
Solidarität muss praktisch werden – auf nach Dessau!
Trotz des rassistischen Klimas in Dessau, dem Vorgehen von Stadt, Polizei und Behörden sowie den Einschüchterungen durch Neonazis kämpft die Initiative „In Gedenken an Oury Jalloh“ seit mehreren Jahren für eine lückenlose Aufklärung der Todesumstände und fordert neben Gerechtigkeit und Wiedergutmachung ein Ende der Polizeibrutalität und des Behördenrassismus. Die von Mouctar Bah, einem Freund des getöteten Oury Jalloh, gegründete Initiative sammelte Geld für eine zweite Obduktion, nachdem die Staatsanwaltschaft es abgelehnt hatte, den Leichnam röntgen zu lassen. Erst so wurde dann die weiteren Verletzungen bekannt, die sehrwohl durch eine Misshandlung Jallohs im Polizeirevier erklärt werden könnten.
Mit verschiedensten Veranstaltungen, Öffentlichkeitsarbeit, Demonstrationen und vielem mehr sorgt die Initiative dafür, dass der Tod Oury Jallohs nicht vergessen so wenig vergessen wird wie jene Personen, die für seinen Tod verantwortlich sind und bisher davon zehrten, dass die Todesumstände unaufgeklärt bleiben. Die Aufklärungsarbeit der Initiative hat deshalb unsere volle Solidarität und jede Unterstützung verdient.
Die Teilnahme an der Demonstration anlässlich des 9. Todestags von Oury Jalloh ist dabei nicht nur eine Gelegenheit von vielen, gemeinsam und solidarisch zu zeigen, dass wir die Initiative sowie die Familie, Angehörige und FreundInnene von Oury Jalloh nicht allein lassen; dass wir keine Ruhe geben werden, bis vollständig ermittelt wurde, was vor neun Jahren im Polizeirevier in Dessau passiert ist. Darüber hinaus bietet die Demonstration die Möglichkeit, sich kritisch mit der Stadt Dessau und ihren Behörden auseinanderzusetzen. Sie haben es schließlich immer wieder Neonazis und anderen Rassisten ermöglicht, ungestört ihre Hetze verbreiten. Sie sind es auch, antirassistische Arbeit kriminalisieren. Obwohl die Demonstration auf einem für viele Menschen unpassenden Termin fällt, ist eine Teilnahme schon deshalb wichtig, um Polizeiangriffe auf die Initiative und ihre UnterstützerInnen, wie im Jahr 2012 geschehen, unmöglich zu machen.
Tragen wir also am 7. Januar 2014 unsere Trauer und Wut über den Tod Oury Jallohs auf die Straßen von Dessau und bringen deutlich zum Ausdruck, dass wir ihn nicht vergessen und diesen Mord niemals vergeben werden! Zeigen wir, dass wir die Zustände in Dessau nicht unbeantwortet lassen, dass wir Rassismus immer und überall entgegentreten werden.
Gemeinsam das Schweigen brechen und für eine solidarische Gesellschaft kämpfen!
Demonstration | Dienstag, 07. Januar 2014 | 14:00 Uhr | Hauptbahnhof | Dessau