In Istanbul hat der Prozess gegen die Mörder eines kommunistischen Aktivisten begonnen.
Zwei Wasserwerfer, gepanzerte Fahrzeuge, Polizisten in Kampfuniform, ausgestattet mit Maschinengewehren – Die traurige Bilanz eines Mittwochs in Istanbul. Doch wofür das alles? Sieben Personen sitzen friedlich am Rande der Istiklal, der Haupteinkaufsstraße Istanbuls. Niemand von ihnen erweckt den Anschein etwas im Schilde zu führen. Sie alle sind Freunde Hasan Ferit Gediks, der am 29. September 2013 erschossen worden war.
Hasan war 21 Jahre alt, lebte in Küçuk Armutlu, einem Istanbuler Stadtteil, der überwiegend von Aleviten bewohnt wird. Ermordet wurde er nach einer Demonstration gegen Drogenbanden im Stadtteil Gülsuyu. Sechs Schüsse trafen ihn bevor er starb, vier davon direkt in den Kopf. Man brachte ihn in ein nahe gelegenes Krankenhaus, wo er schließlich seinen schweren Verletzungen erlag.
Am 14. August startete der Prozess gegen den vermeintlichen Mörder Hasans und wurde noch am selben Tag, auf den 4. September vertagt. Grund dafür waren Attacken auf die Familie Hasan Ferits. Man versuchte einzuschüchtern, terrorisierte die Familie vor Prozessbeginn. Noch am selben Abend kam es zu Ausschreitungen in verschiedenen Vierteln Istanbuls. Hier traut man weder der Justiz noch der Polizei. Schon gar nicht der Regierung von Recep Tayyip Erdoğans AKP.
Die sieben Jungen, die angelehnt an eine Mauer auf der Istiklal stehen, sehen müde aus. Schon seit mehreren Tagen harren sie nun auf der Straße aus. Vor ihnen ausgebreitet findet sich ein großes Banner mit dem Konterfei Hasan Ferits. Auf einem mitgebrachten Tisch liegt ein Megaphon. In regelmäßigen Abständen stehen sie auf und verkündigen ihre Forderung an die Öffentlichkeit: Gerechtigkeit für Hasen Ferit! Doch wenige Leute bleiben stehen oder suchen das Gespräch mit den Demonstrierenden. Sie alle gehören der Gruppe Halk Cephesi an, die der türkische Staat polizeilich und juristisch verfolgt. Hasan Ferit war einer ihrer Genossen.
Eigentlich wollten sie ein Zelt aufbauen. Das erlaubte man ihnen jedoch nicht. „Die Polizei griff heftig ein, verhinderte den Aufbau und verletzte mich an der Brust“, schildert ein 19-jähriger Jugendlicher. Er zeigt mir die Verletzung an seiner Brust und schüttelt mit dem Kopf. Diese Art des staatlichen Eingreifens scheint nichts Neues zu sein.
Derweil stehen die rund 50 Polizisten in einer Gasse nur gut 100 Meter von den Demonstranten entfernt. Die Kulisse wirkt bedrohlich. Man spielt am Gewehr herum, richtet die Ausrüstung und wirft Blicke herüber, als langweile man sich aufgrund des ruhigen Verhaltens der Jugendlichen.
Der 20-Jährige Berek erzählt, weswegen sie nun seit Tagen im Herzen Istanbuls ausharren. „Hier gibt es keine Gerechtigkeit für Hasan“, berichtet er. Von vornherein seien die Ermittlungen in dem Fall vergiftet gewesen. Polizisten in Zivil hatten das T-Shirt vom Leichnam Ferits im Krankenhaus entfernt. Familienangehörige sollen versucht haben, sie daran zu hindern, wurden jedoch von der herbeieilenden Polizei bedrängt. Wo sich das Beweisstück nun befindet? „Keine Ahnung.“
„Die Polizei wusste von dem geplanten Attentat auf Hasan, verhinderte es jedoch nicht“, berichtet Berek weiter. Er ist nicht der Einzige, der diese Überzeugung teilt. Man geht davon aus, dass die Drogenbanden von der Regierung in die Viertel geschickt werden um sie zu schwächen. Auch die Teilnehmer der Gezi-Bewegung teilen diese Ansicht und veröffentlichten eine Stellungnahme, in der sie der Regierung unterstellen, die Drogenbanden zu unterstützen, um aufständische, alevitische Viertel wie Gülsuyu zu bändigen.
Diese Viertel passen so gar nicht zu dem Istanbul Erdoğans. Dem Istanbul, das sich als moderne kapitalistische Metropole präsentiert. Dem Istanbul als Aushängeschild einer vermeintlich neuen, modernen und starken Türkei. In den revolutionären Kiezen geht es familiär zu. Es gibt keine Einkaufszentren, Flaniermeilen oder Einkaufsstraßen. Hier merkt man wenig vom wirtschaftlichen Aufschwung der Türkei. Und hier findet man auch keine Konterfeis des starken Mannes der Türkei.
Ein für Hasan Ferit geplanter Trauermarsch sollte von seinem Heimatort Küçük Armutlu über Gülsuyu, dem Ort, an dem er erschossen wurde, bis zum revolutionären alevitischen Stadtteil Gazi Mahallesi führen. Dort wollte ihn seine Familie bestatten. Doch auch hier griff der starke Arm des türkischen Staates ein. Die Polizei sperrte alle Zufahrtsstraßen nach Küçük Armutlu, es wurden Personalien kontrolliert. Jeder Mensch, der den Stadtteil betreten wollte, musste nachweisen, dass er dort lebt. Dem Rest der Trauergemeinde wurde verweigert, Hasan Ferit die letzte Ehre zu erweisen.
„Die Mörder Hasan Ferits haben Verbindungen zu den verschiedensten Personen, von Sedat Peker über Mehmet Ali Ağca bis hin zu führenden politischen Funktionären der AKP“, schildert Berek weiter. Was hat es damit auf sich? Auf den Plakaten, die hinter den Jugendlichen hängen, ist ein Foto Hasan Ferit Gediks zu sehen. Im Hintergrund ist ein Bild mehrerer Männer abgebildet, die in trauter Atmosphäre vor der Kamera posieren. Einer von ihnen ist Sedat Peker.
Peker, der in Deutschland aufgewachsen ist, hat eine steile Karriere in der türkischen Unterwelt hingelegt, wurde im Jahr 1998 wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung verurteilt. Zudem soll er einer der Drahtzieher des Gazi-Massakers von 1995 gewesen sein. Bei den Unruhen im Istanbuler Stadtteil Gazi starben 20 Menschen. Bis heute weist Peker diese Anschuldigungen zurück.
Ebenfalls auf dem Foto zu sehen ist Mehmet Ali Ağca, türkischer Rechtsextremist. Ağca ermordete am 1. Februar 1979 den türkischen Journalisten und Chef der Zeitung Milliyet Abdi İpekçi und verübte am 13. Mai 1981 ein Attentat auf Papst Johannes Paul II. in Rom. Drei der von Ağca abgefeuerten Schüsse trafen den Papst, verletzten ihn schwer, doch er überlebte. Am 18. Januar 2010 wurde Ağca aus dem Hochsicherheitsgefängnis in Sincan bei Ankara entlassen. Seitdem machte Ağca nur noch mit verwirrten Aussagen in seinen Memoiren Schlagzeilen. Hier behauptete der Faschist, der iranische Revolutionsführer Ajatollah Ruhollah Chomeini habe ihn zu dem Attentat auf den Papst angestiftet. Glaubwürdigkeit? Nicht vorhanden.
Ebenfalls auf dem Foto zu sehen ist Yusuf Turhan, nach Angaben von Halk Cephesi der Anführer der Drogenbande, die Hasan Ferit Gedik ermordet haben soll. Inmitten dieser illustren Gesellschaft steht Cemil Yaman, AKP Politiker und Bürgermeister im Landkreis Dilovasi. Ein Schelm, wer bei dieser Konstellation Böses vermutet.
Hasan Ferits Familie und auch seine Freunde, die aktuell auf den Straßen Istanbuls den Prozess überwachen, können weder den Mörder Hasans benennen, noch werden sie die Kontakte zwischen mafiosen Strukturen und türkischer Regierung beweisen können. Auch wenn ihnen dies gelingen sollte, bestehen große Zweifel daran, ob die Justiz der Türkei dazu in der Lage wäre, einen solchen Fall aufzuklären. Noch im Februar dieses Jahres verabschiedete das türkische Parlament eine Justizreform, durch die die Regierung größeren Einfluss bei der Ernennung von Richtern und Staatsanwälten erhält. Dafür erntete Erdoğan scharfe Kritik vom Präsidenten des türkischen Verfassungsgerichts, Haşim Kiliç. „In einem Rechtsstaat arbeiten Gerichte weder auf Befehl, noch werden sie durch Freundschaften oder Feindschaften bestimmt“, sagte Kiliç . Geändert hat sich dadurch nichts.
Eines ist sicher: Der Fall Hasan Ferit Gedik wirft abermals ein schlechtes Licht auf die Justiz der Türkei. Beweismittel verschwanden, das Verfahren wurde schon nach dem ersten Tag unterbrochen, die Familie des Opfers bedroht. Am ersten Prozesstag strömten knapp 1000 Menschen vor das Gericht und forderten Gerechtigkeit für Hasan Ferit. Öffentliche Berichterstattung? Minimal. Öffentliche politische Auseinandersetzung mit dem Fall? Nicht vorhanden.
So werden Berek und seine Mitstreiter weiterhin auf den Straßen Istanbuls Gerechtigkeit für ihren Freund fordern. Immer unter den wachsamen Augen der türkischen Justiz. Ob ihrem Freund in einem dermaßen korrupten Justizsystem jemals die Gerechtigkeit zuteilwerden wird, die sie sich wünschen? Das muss bezweifelt werden.
von lowerclassmagazine