Charlie Hebdo 2.0 | Kritik an den Anschlägen in Paris und an der Trauer- und Kriegsmaschinerie derer, die nicht Opfer der Anschläge waren
Die Massaker, die am 14. November 2015 in Paris verübt wurden, sollen laut ›gut informierter Kreise‹ ein Racheakt auf Blutbäder und Zerstörungen in arabischen Ländern (Irak, Syrien, Afghanistan) sein, an denen sich westliche Staaten, insbesondere die französische Außenpolitik beteiligt haben und fortlaufend beteiligen. Sollte dieses Motiv stimmen, dann muss man eines ganz deutlich sagen: Das Blutbad, das man während eines Konzertes im ›Club Bataclan‹ anrichtete, die Ermordung von BesucherInnen eines Cafés haben nicht die politisch und militärisch Verantwortlichen getroffen. Im Gegenteil: Man brachte jene in Frankreich (und in Europa) wieder zusammen, die im Alltag so viel gemein haben wie die BewohnerInnen der Banlieues mit denen im ersten Arrondissement in Paris.
Nicht anders ist der Mordanschlag auf die Satirezeitung ›Charlie Hebdo‹ im Januar dieses Jahres zu werten, wenn man ›Außenseiter‹ des französischen Kulturbetriebes ins Zentrum einer blutigen Kritik rückt, die sich für Religions – und Gotteslästerungen rächen wollte.
In beiden Fällen wiederholen die Täter in Paris etwas, was in Syrien, im Irak und in Libyen Alltag geworden ist: Sie spiegeln denen, die von den Moslems, von den Islamisten reden, was es heißt, von den Franzosen zu reden. Das ist nicht aufklärerisch, sondern reaktionär.
Gänzlich gleich geblieben ist die Trauer- und Kriegsmaschinerie, die gut aufeinander abgestimmt nach den Anschlägen in Gang gesetzt wurde, wobei man jetzt allen Ernstes behauptet, man sei im Krieg. Mit diesem erwünschten Kriegszustand wird nun all das gerechtfertigt und umgesetzt, was man schon lange gewollt hat und womit dieser Terroranschlag nichts zu tun hat: Man will noch mehr Krieg (außerhalb von Europa), man will noch mehr Polizei, noch mehr Soldaten, noch mehr Überwachung, noch mehr von dem, was man vor dem Islamismus schützen will. Ganz besonders zynisch wird es, wenn die Geheimdienste aus den USA, England und Deutschland gemeinsam die Kritiker ermahnen, endlich ganz still zu sein, damit sie wieder ungehindert ihrer Arbeit nachgehen können.
Nun wird einmal mehr eine Einheit beschworen, vor der man sich nur gruseln kann: Sozialisten, Nationalisten und Neofaschisten (Le Pen) wetteifern darum, die ›Freiheit‹ zu verteidigen. So schlägt Le Pen genüsslich vor, alle ›Islamisten‹ zu verhaften, den als ›Gefährder‹ eingestuften Verdächtigen elektronische Fussfesseln anzulegen. Anstatt solche Vorschläge empört zurückzuweisen, zeigt sich der ›Sozialist‹ Mitterand geneigt, diese Vorschläge zu prüfen. Wenn das irgend etwas, auch nur im entferntesten mit Sozialismus zu tun hat, dann kann man dem Propheten auch ins Paradies folgen.
Und wieder und wieder fragt man sich: Was hat das alles mit dem Krieg gegen den Islamismus zu tun? Wer verteidigt wo was?
Es lohnt sich, noch einmal an das zu erinnern, was dem Mordanschlag im Januar 2015 folgte.
Am 7. Januar 2015 ereignete sich in Paris ein Anschlag auf die Satirezeitschrift ›Charlie Hebdo‹, bei dem elf Menschen ermordet wurden. Zwei Tage später stürmte ein weiterer Attentäter einen koscheren Supermarkt im Osten von Paris, tötete einige Kunden und nahm die anderen als Geisel. In einem Telefonanruf stellte er die Tat in Verbindung mit dem Anschlag auf »Charlie Hebdo« und forderte: ›Frankreich soll alle seine Truppen aus sämtlichen muslimischen Ländern abziehen‹.
Ziemlich schnell stand das Fazit fest: Der Islamische Staat/IS führt seinen Krieg im Namen des Koran und des Propheten Mohammed im Nahen Osten (Syrien, Irak) und trägt ihn nun auch nach Europa. Auch nach innen hatte man eine Botschaft: Dieser mörderische Angriff sei ein gemeiner Anschlag auf die Presse- und Meinungsfreiheit, die es jetzt gemeinsam zu verteidigen gelte, ob arm oder reich, oben oder unten, rechts oder links.
Damit wurde innenpolitisch ein ›nationaler Konsens‹ imaginiert, der auch in Frankreich seit Jahren zerbrochen, zerschlissen und aufgebraucht war und ist – und gerade deshalb umso heftiger beschworen werden muss. Die Süddeutsche Zeitung hatte den Mordanschlag unverkrampft ungeniert eingeordnet: Jetzt gelte es, die »Gunst der schrecklichen Stunde« zu nutzen.
Alle zusammen gegen den Islamismus?
»Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. (…) Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.« (Karl Marx, MEW 1, S.378)
Nach dem mörderischen Anschlag auf die Satirezeitschrift ›Charlie Hebdo‹ wurde die Debatte über den Islam in allen Medien neu aufgelegt: Welche Rolle spielt der Islam bei der Rechtfertigung von Terroranschlägen? Wird bei einem Anschlag der Islam missbraucht, wenn die Attentäter als Zeuge und Beistand ›Allah ist groß‹ rufen?
IslamexpertInnen bevölkern einmal mehr die Talkshows. Es geht wieder und wieder um die Fragen: Gibt es einen moderaten Islam und einen zur Gewalt aufrufenden Islam? Haben die Anschläge etwas mit dem Islam zu tun oder mit anderen, sprich lebensweltlichen Ursachen? Und ganz viel wird vermessen und gestritten, wo die Grenze zwischen dem Islam, gegen den wir nichts haben, und dem Islamismus, den es noch energischer und entscheiden zu bekämpfen gibt, verläuft?
Von Regierung, Thinktanks und von den Medien wird uns gesagt, dass der Kampf gegen den (gewaltbereiten/fanatischen) Islamismus keine Kriegserklärung gegen den Islam sei. Schließlich habe man nichts gegen Religionen, auch nichts gegen den Islam, solange unter diesem Himmel ein Bett steht, in dem der Westen genug Platz hat.
Zu dieser Selbstverortung werden seitdem erneut und wiederholt alle muslimischen Verbände aufgerufen, sich auf die richtige Seite zu stellen. Sie sollen sich wieder deutlich und glaubhaft vom Islamismus distanzieren. Sie sollten nicht nur Bekenntnisse zu diesem Staat und seiner Verfassung abgeben, sondern auch Zeugnis ablegen, dass diese mehr als Lippenbekenntnisse sind. Man fordert sie auf, in ihren Moscheen nach ›Hasspredigern‹ Ausschau zu halten, ihnen kein Forum zu bieten und eng mit den Polizei- und Verfassungsschutzbehörden zusammenzuarbeiten, wenn sie ›verdächtige‹ Muslime entdecken, die den Rubikon vom (friedliebenden) Islam zum (gewaltbereiten) Islamismus überschreiten.
Wenn Attentäter im Namen Mohammeds morden, erwartet man von allen Muslimen ganz selbstverständlich, dass sie sich distanzieren. Wenn unter Anrufung Gottes Krieg gegen den Irak (»Möge Gott uns jetzt führen«, US-Präsident George W. Bush) geführt wird, dann fragt niemand alle Christen, ob sie sich von Kriegsverbrechen distanzieren oder wie wir uns vor einem gewaltbereiten Christentum schützen können? Genauso wenig kommt jemand auf die Idee, alle Deutschen dazu aufzurufen, sich deutlich und erkennbar vom Terror des NSU zu distanzieren, der im Namen des ›deutschen Volkes‹ begangen wurde.
Wie willkürlich und vordergründig die Unterscheidung zwischen dem Islam und dem Islamismus ist, verdeutlichen ein paar Beispiele:
Die US-Regierung hat in den 80er Jahren gegen die sowjetische Intervention in Afghanistan die im Namen des Islam agierenden Taliban bewaffnet, finanziert und ihnen zum Sieg verholfen. Ist das der Islam, der auch hier seinen Platz haben soll?
Wenn 2011 im Krieg gegen Libyen ›Gotteskrieger‹ als Bodentruppen unterstützt und bewaffnet werden, die bis heute das Land terrorisieren, wobei es um wenig Göttliches geht, sondern um die Aufteilung der Beute, sind das dann die ›befreundeten‹ Islamisten?
Ist der Gottesstaat Saudi-Arabien ein islamischer oder ein islamistischer Staat? Wenn dort Menschen ausgepeitscht, gefoltert und hingerichtet werden, angeblich nach den Gesetzen der Scharia, ist das dann ein trotz allem wohlgelittener Islam, weil der eines verbündeten Staates? Wird in diesem reaktionären, patriarchalen System, das der Westen unter anderem mit Waffenlieferungen (auch von den deutschen Bundesregierungen) unterstützt, genau jener Islam gelebt, den wir so vortrefflich vom Islamismus unterscheiden?
Verträgt sich die Bewaffnung eines Teils der syrischen Opposition (auch durch westliche Staaten), die sich mehr als deutlich einem islamischen Gottesstaat verschrieben hat, mit einem Islam, von dem schon mal von höchster Stelle gesagt wurde, er gehöre zu Deutschland?
Auch die israelische Regierung hat kein Problem damit, das politisch und materiell zu unterstützen, was sie ansonsten als islamistischen Terror zu bekämpfen vorgibt:
»Bereits Anfang Dezember 2014 hatten die Vereinten Nationen berichtet, die israelischen Streitkräfte ›interagierten‹ auf den Golanhöhen mit der Miliz Jabhat al Nusra (›Al Nusra-Front‹), die im August 45 UN-Blauhelme zu Geiseln genommen hatte. Aktuellen Berichten zufolge wird Jabhat al Nusra von Israel durch ›medizinische wie logistische Hilfe‹ unterstützt. Ursache sei, dass die Miliz in Syrien gegen die Regierung von Bashar al Assad und gegen die mit dieser verbündeten proiranischen Hizbullah kämpft. Jabhat al Nusra, Kooperationspartner gegen Assad und proiranische Kräfte, gehört dem Netzwerk Al Qaida an, dem sich zwei der Attentäter von Paris zugerechnet haben.« (Feind und Partner, german-foreign-policy.com vom 29.01.2015)
Man könnte noch zahlreiche Beispiele anführen, um deutlich zu machen:
Den Regierungen im Westen ist es egal, ob jemand den Koran bemüht und zu Mohammed betet. Entscheidend ist, ob jeweilige Organisationen bzw. Staaten als ›Partner‹ nützlich sind, ob man mit ihrer Hilfe eigene Interessen durchsetzen kann. Fundamentalistisch – im ganz wörtlichen und gottlosen Sinne – sind weder der Islam noch das Christentum, sondern die kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse, die man damit überwölbt – mit all ihren unterschiedlichen Ausprägungen und Nuancen (Trennung von Staat und Religion etc.). Nur darauf kommt es wirklich an.
Sprechen wir also nicht über friedlichen und/oder terroristischen Islam, sondern über verschleierte und unverschleierte Kapitalismen. Das würde auch den meisten islamischen Staaten und Bewegungen gerecht werden.
Ob Herrschaftsverhältnisse also mit der Scharia oder mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch exekutiert werden, ist im Sinne hegemonialer Interessen nachrangig. Nicht die Scharia, der Koran, der Terror und die Unterdrückung unterscheiden das Verhältnis zum ›Islamischen Staat‹ (IS) von dem zum saudi-arabischen Regime. Der wirklich ausschlaggebende Unterschied besteht darin, dass der IS nicht die Interessen des Westens bedient, das saudi-arabische Regime hingegen sehr wohl. Das hat zur Folge, dass ersterer bombardiert, letzteres hingegen politisch und militärisch aufgerüstet wird. Doch auch das Verhältnis zu der Terrororganisation ist interessengeleitet, wie ein genauerer Blick auf den IS deutlich macht: Was lange ruchbar war, wurde im Mai 2015 durch die Veröffentlichung eines geheimen Pentagon-Papieres aus dem Jahr 2012 bestätigt. Darin wurde in einem »Islamischen Staat« eine »strategische Chance« für den Sturz der Regierung Syriens gesehen:
»Ein … bisher streng geheimer Pentagon-Bericht beweist, dass die USA die Terrormiliz ›Islamischer Staat in Irak und Syrien‹ (ISIS bzw. IS) geschaffen haben. Der IS sollte danach Washington als Werkzeug zum Sturz von Syriens Präsidenten Baschar Al-Assad und als Vorwand für die Rückkehr des US-Militärs in den Irak dienen. Hintergrund: Der konservativen US-Bürgerrechtsorganisation ›Judicial Watch‹ war es gelungen, per Gerichtsbeschluss die Freigabe einer Reihe von US-Geheimpapieren zu erzwingen. Bei deren Analyse entdeckte der US-Journalist Nafeez Ahmed das Dokument des militärischen Nachrichtendienstes des Pentagons (DIA) aus dem Jahr 2012. Es war seinerzeit in Washington u. a. auch an das Außen- und das sogenannte Heimatministerium gegangen. … Aus dem Text [geht] hervor, dass die westlichen Regierungen bewusst Al-Qaida-Gruppierungen und andere islamistische Extremisten (aus denen nach 2012 der IS hervorging) förderten, um Assad zu stürzen. … In dem Papier heißt es: ›Es gibt die Möglichkeit der Schaffung eines sich konstituierenden oder nicht offiziell erklärten salafistischen Kalifats im Osten Syriens, und das ist genau das, was die Unterstützer der Opposition wollen, um das syrische Regime zu isolieren und die schiitische Expansion im Irak durch Iran einzudämmen‹. Der DIA-Bericht prognostiziert den Aufstieg eines solchen ›Islamischen Staats‹ als direkte Folge der US-Destabilisierungsstrategie. (…) Die Entstehung eines mit Al-Qaida verbundenen ›salafistischen Kalifats‹ wird in dem US-Dokument sogar als ›strategische Chance‹ bezeichnet, um Washingtons Ziele in der Region zu erreichen: Regimewechsel in Syrien und Zurückdrängung der ›schiitischen Expansion‹ beziehungsweise des Iran.«[1]
Es passt ins Bild, wenn der NATO-Staat Türkei zahllose IS-›Kämpfer‹ über die Grenze nach Syrien einsickern läßt – sehenden Auges auch von westeuropäischen und US-Geheimdiensten. Dass aber auch ein zu bekämpfender IS die westlichen Interessen nach weiteren Interventionen noch bedient, bestätigen die Worte von Leon Penetta, ehemaliger CIA-Chef (2009-2011) und US-Verteidigungsminister (2011-2013), der zu Beginn der Luftangriffe auf den IS im August 2014 erklärte:
»Ich denke, wir stehen vor einem neuen 30-jährigen Krieg. (…) dieser Krieg wird über den Islamischen Staat hinausgehen und sich neuen Gefahrengebieten in Nigeria, Somalia, Jemen, Libyen und sonstwo zuwenden.«[2]
Man kann also allen westlichen Regierungen (auch der deutschen Bundesregierung) tatsächlich abnehmen, dass sie weder etwas gegen den Islam als solchen noch gegen die gewaltsame Durchsetzung einer islamisch begründete Herrschaft haben, wenn damit ihre Interessen geschützt bzw. gewahrt werden. Das belegen sie eindrucksvoll und konsequent mit ihrer Unterstützung und Zusammenarbeit mit Regimen in Katar, in Saudi-Arabien oder in Afghanistan. Nicht im Widerspruch dazu steht eine fortwährend militärisch flankierte Geopolitik, von der Ilija Trojanow und Juli Zeh sagen: »Ein kriegerisches perpetuum mobile also, ein dauernder Ausnahmezustand, der Ausnahmegesetze rechtfertigt.«[3]
Was 2010 Befürchtungen waren und gerne als Alarmismus abgetan wird, ist seit dem 19. November 2015 erwünschter Normalzustand: Der französische Präsident François Hollande hat nach den Anschlägen in Paris den Ausnahmezustand verhängt. Das französische Parlament hat ihn um drei Monate verlängert und laut einer repräsentativen Umfrage befürworten über 80 Prozent der Befragten die Aufgabe ihrer Freiheiten – zu derem Schutz.
All diejenigen, die so »unsere Lebensweise«, »unsere Freiheit« verteidigen wollen, sei mit auf den Weg gegeben, dass die Ausnahmegesetze, die François Mitterand wiederbelebt hat, aus den 60er Jahren stammen. Damals führte die französische Regierung einen barbarischen Kolonialkrieg in Algerien. Sie wandte zur »Verteidigung« nicht nur systematisch die Folter an, sie wußte auch im eigenen Land, wie man die »Freiheit« verteidigt: Als in Paris am 17. Oktober 1961 mehrere Zehntausend gegen den blutigen Kolonialkrieg auf die Straße gingen, ermordete die Polizei Hunderte von ihnen – zahlreiche wurden wie tote Katzen in die Seine geworfen. Die ›freie‹ Presse Frankreichs quittierte diese Barbarei mit komplizenhaftem Schweigen.
Wolf Wetzel, 25.11.2015