Die Hölle und der Putschplan in Bolivien

Die Putschisten haben sich getäuscht und eine Reaktion ausgelöst, die sie in diesem Ausmaß nicht einkalkuliert hatten
Von , amerika21
Die Proteste gegen den Putsch in Bolivien reißen nicht abDie Proteste gegen den Putsch in Bolivien reißen nicht ab

„Du gehst und ich bleibe hier in dieser Hölle“, sagte der Taxifahrer zu mir, als er mich am Flughafen von El Alto absetzte. Es ist keine Metapher: Der erste Tag des Putsches, der Montag, war apokalyptisch.

Es gab Dutzende von Straßenblockaden aus Stacheldraht, Gruppen mit Stöcken in jeder Ecke, Demonstrationszüge aus verschiedenen Stadtteilen, Menschenmassen mit Stöcken, Steinen, Schleudern und Hüten, Polizeiwachen brannten, Wut, so viel Wut, wie ich sie in meinem Leben selten erlebt habe. Und Blut, viel Blut auf dem Boden, in den Videos, in den Worten.

Seit diesem Montag gibt es in allen Straßen von El Alto Whipala-Fahnen1. Jeden Tag gehen die Menschen auf die Straße. Jede Nacht gibt es Mahnwachen, Feuer, eine unumstößliche Entscheidung. Sie aktivierten das historische Aymara-Gedächtnis, alt und auch neu, wie vom Aufstand von 2003, bei dem sechzig Menschen getötet wurden. „Mesa, Dreckskerl, der Oktober wird nicht vergessen.“2

Die Putschisten haben einen so schwerwiegenden Fehler begangen, dass es keine versöhnliche Inszenierung mehr gibt, um die Eskalation zu stoppen, die aus verschiedenen Teilen des Landes in Richtung La Paz, das Zentrum der politischen Macht vordringt. Verschiedene Forderungen sind zusammengekommen und richten sich gegen einen gemeinsamen Feind, der aus vier Komponenten besteht: Fernando Camacho3, Carlos Mesa4, Jeanine Añez und die Nationale Polizei.

Die Hauptforderung ist der Rücktritt der selbsternannten Añez. Und die Radikalität hat ihren Ursprung im ausschließenden, anti-indigenen Staatsstreich, der sich in dem Mangel an Respekt vor Whipalas und in den Aggressionen gegen Frauen, die lange Röcke tragen, das heißt Indigene sind, ausgedrückt hat.

Es sind diese Slogans, die bei jeder Mobilisierung, die von El Alto nach La Paz kommt, von den Bewohnern dieser Stadt, von den Hochländern, den Bewohnern des tropischen Flachlands, von den Minen und Yungas wiederholt werden. Sie kommen durch die El Prado-Straße bis zum Plaza Murillo, dem Ort, an dem der Staatsstreich in Fakten und Symbolen stattfand.

Die Putschisten haben sich getäuscht und eine Reaktion ausgelöst, die sie in diesem Ausmaß nicht einkalkuliert hatten. Die erste Antwort angesichts der Eskalation war die der Streitkräfte, die in einem faktischen Ausnahmezustand raus auf die Straßen gegangen sind. Militärflugzeuge kreisen, Hubschrauber, Panzer (jetzt mit der Whipala) werden in La Paz, El Alto, auf den Autobahnen des Landes eingesetzt.

Was ist der Plan derer, die den Putsch durchgeführt haben? Das ist die zentrale Frage. Es werden wohl drei Schritte sein. Der erste, der erreicht wurde, war der Sturz der Regierung unter der Führung von Evo Morales und Álvaro García Linera. Der zweite, der in Teilen umgesetzt wurde, ist die Schaffung einer institutionellen Fiktion, die sich in der Selbsternennung von Añez, der Einsetzung von Ministern und der Führungsriegen der Streitkräfte und der Polizei materialisierte.

Dieser zweite Schritt hat noch einen Haken: das Parlament, das aus zwei Kammern besteht und in der Hand der Bewegung zum Sozialismus (Movimiento Al Socialismo, MAS) ist, die über eine Zweidrittelmehrheit verfügt und neue Vorsitzende gewählt hat. Die putschistische Struktur muss das Problem lösen, wie sie angesichts dieses Szenarios vorgeht: die gesetzgebende Gewalt in einem Akt des Putsches auflösen, oder eine Vereinbarung mit der MAS suchen.

Letzteres hat mit dem dritten Schritt zu tun: der Einberufung von Wahlen. Die Strategie der Putschisten scheint diesen Ausweg von Beginn an erwogen zu haben: Es ist kein Staatsstreich, der auf unbestimmte Zeit einen General oder eine Junta einsetzt, sondern sich als verfassungsmäßig und mit dem Versprechen für Wahlen in kurzer Zeit präsentiert.

Das bedeutet also, die Möglichkeit von Wahlen zu eröffnen und die notwendigen Bedingungen für diesen Tag geschaffen zu haben. Diese Bedingungen zu schaffen, damit wurde bereits vor dem Sturz von Morales begonnen: Verfolgungen, Morde, Massaker, zu denen nun auch Verhaftungen kommen, wobei die Rechtsstaatlichkeit gebrochen und unter absoluter Straflosigkeit gehandelt wird. Der eingesetzte Regierungsminister hat es gesagt, „die Jagd“ hat begonnen.

Viele Punkte sind noch ungelöst und die Entwicklung wird unter anderem vom Druck der Straße abhängen, ebenso von der politischen und parlamemtarischen Strategie der MAS. Ein Punkt ist, ob der heterogene und innerhalb der Putschisten umstrittene Plan darauf abzielt, die MAS zu verbieten oder aber ihr zu erlauben, in einer Situation der Verfolgung ihrer Kader und Anführer bei den Wahlen anzutreten.

Die andere zentrale Frage ist: Was ist die Strategie des Widerstands gegen den Putsch? Manche Antworten sind schon darin enthalten, wie dem laufenden Putsch entgegengetreten wurde: Ohne klare Vorgaben, die ein organisiertes Vorgehen erreicht hätten, besonders in den letzten Tagen. Die Massenmobilisierungen in der Phase der Eskalation haben den Vollzug des Putsches verzögert, ohne ihn stoppen zu können, während im Innern Säulen der Unterstützung wegbrachen, bis hinein in die Streitkräfte.

Aufrufen von Evo Morales zur Mobilisierung wurde gefolgt, aber unkoordiniert und ohne unmittelbare Wirkung, und beim Schlussangriff war die Straße verloren. Eine Antwort darauf zu finden, warum das so war, beinhaltet, sich zu fragen, wie es aktuell um die Bewegungen und darüber hinaus um den Veränderungsprozess zur Stunde des Putsches bestellt war.

Ein Beispiel für diese Situation kann man in El Alto sehen, wo die größte Organisation, der Verband der Nachbarschaftsräte (Federación de Juntas Vecinales, Fejuve), sich in zwei Fraktionen gespalten hat: eine regierungsnahe, die andere oppositionell, und das Bürgermeisteramt in der Hand der Opposition. Am Mittwoch fand eine Volksversammlung statt, bei der versucht werden sollte, eine neue, einheitliche Leitung zu bilden – da die bisherige sehr umstritten war –, aber das Ziel wurde noch nicht erreicht.

Drei zentrale Aspekte lassen sich feststellen: An erster Stelle, dass die Person Evo Morales, ihre Verteidigung und Rückkehr, keine vereinheitlichende Forderung ist, zumindest vorerst. Zweitens, dass die Anführer der Bewegungen in vielen Fällen Erscheinungen von Abnutzung und Spaltungen zeigen. In El Alto gibt es eine große Kraft und Radikalität, aber (noch) ohne Linie oder fähige Leitung. Drittens, eine Stragie zu entwickeln, welche die Bewegungen – wie jene die zur Coordinadora Nacional para el Cambio5gehören – mit der Gewerkschaftszentrale COB und dem parlamentarischen Bereich im Rahmen eines gemeinsamen Plans verbindet und organisiert, ist eine ebenso unabdingbare wie komplexe Aufgabe.

Viele Fragen können im Moment nur aufgeworfen werden.

In Bolivien selbst gibt es sehr wenig Informationen, jede befragte Person dankt der internationalen Presse, dass sie da ist. Die bolivianischen Journalisten, die nicht mit der Darstellung der Putschisten einig sind, werden an ihren Wohnorten, Arbeitsplätzen und telefonisch bedroht. Die De-facto-Kommunikationsministerin hat bekräftigt, dass sie „Journalisten und Pseudojournalisten“ wegen „Aufwiegelung“ strafrechtlich verfolgen wird. Jede Diktatur braucht Medien, die ihre Darstellung reproduzieren und ansonsten schweigen.

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Freitag Nachmittag: Es kommen Bilder vom Massaker in Cochabamba, bisher gibt es vier Tote.

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Wir sind in der Phase der Offensive des Putsches, in der sich die Repression, die Verfolgung und die Morde beschleunigen und ausbreiten. Es gibt viele Genossinnen und Genossen, die bedroht werden, die in Botschaften sind, in einem Ausnahmezustand, in dem kein Gesetz mehr gilt außer dem, das für den Staatsstreich in diesem entscheidenden Moment benötigt wird.

Sein Ziel ist es, die Kräfte des Veränderungsprozesses zu enthaupten, zu dezimieren und zu spalten und zu verhindern, dass sich der Widerstand gemeinsam organisiert und dass es bei der nächsten Wahl eine Alternative gibt.

„Du gehst und ich bleibe in dieser Hölle“, wiederhole ich für mich, während ich in den Kalender schaue und mich frage, was am Samstag in Venezuela passieren wird, von wo aus ich diese Zeilen schreibe. Die Rechte hat Mobilisierungen angekündigt und man weiß, es geht nicht um Juan Guaidó, sondern um diejenigen, die Strategien anweisen und finanzieren, in Venezuela genauso wie in Bolivien und auf kontinentaler Ebene, und die in der Phase der Offensive sind.

Was in dem Land geschieht, das Evo Morales verlassen musste, um Asyl zu bekommen, ist kein isoliertes Ereignis, es ist ein Plan, der für mehrere Länder entwickelt worden ist. Die Hölle ist eine Karte, die sie für uns reserviert haben.

15. November 2019

Der Autor Marco Teruggi aus Argentinien lebt seit 2013 in Venezuela und arbeitet als Journalist

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