Beide ineinander verschränkte Entwicklungen, eine auf soziale Umverteilung orientierte Wirtschaftspolitik und die Stärkung der Rechte der ärmsten und zuvor politisch ausgeschlossenen Teile der Bevölkerung, waren der alten (neo-)kolonialen und mehrheitlich kreolischen (weißen) Oligarchie schon lange ein Dorn im Auge. Deren vor der Amtszeit von Evo Morales durchexerziertes neoliberales Herrschaftssystem basierte fundamental auf der Unterdrückung der Indigen@s und der Nicht-Anerkennung ihrer Rechte, sowie der brutalen Ausbeutung der Ärmsten. Historisch und aktuell steht diese Oligarchie in enger Kollaboration mit dem US-Imperialismus. Sie nutzte nun die Gunst der Stunde – eine, durch mehrere ökonomische und politische Faktoren bedingten, Schwäche der Morales-Regierung –, um zuzuschlagen.
„Lupenreine“ Demokrat*innen
Die Brutalität und die Absichten der oligarchischen Putschisten-Koalition sind dabei kaum zu übersehen: Militärs und Polizeikräfte überfallen gemeinsam mit putschistischen Straßenbanden Hochburgen der Morales-Anhänger*innen und verwüsten Häuser von Regierungsoffiziellen, auch jenes von Morales selbst. Es finden, gut dokumentiert, Folter und Misshandlungen an Morales-Anhänger*innen seitens des Mobs, der Polizei und des Militärs statt. Regierungsmitglieder werden trotz ihres Rücktrittes festgenommen. Dabei agieren die Verantwortlichen so, als handele es sich um „Terroroperationen“. Die whipala, die seit der Morales-Ära die mannigfaltigen indigenen Gemeinschaften Boliviens auch auf offiziellen Fahnen und Wappen des Staates repräsentiert, wird von rechten Mobs verbranntoder von putschistischen Polizeikräften unter „Jetzt sind wir eine Republik – nie wieder!“ demonstrativ von ihren Uniformen abgeschnitten. Dass das keine singulären Ausfälle sind, zeigen die zentralen Personalien des Putsches:
Da wäre zum einen der stramm evangelikale Faschist, Millionär und Paramilitär Luis Fernando Camacho. Er war früher Präsident der klerikalfaschistischen Unión Juvenil Cruceñista (UJC) und ist heute Führer des rechten Oppositionsbündnisses Comité Cívico in Santa Cruz. Der von westlichen Mainstream-Medien im regime change-Modus zum demokratischen Oppositionsführer gegen eine vermeintliche Diktatur stilisierte Faschist lief in den vergangenen Tagen ohne jede Legitimation in den Regierungspalast, legte eine Bibel (!) auf die bolivianische Fahne und rief: „Die Pachamama [eine von den andischen Indigen@s verehrte Gottheit; Anm. d. Autoren] wird nie wieder in den Palast einkehren, Bolivien gehört Christus“. Derselbe Camacho verlangt eine „Notstandsregierung aus Militär und Polizei“, ergo eine faschistische Diktatur.
In der Zwischenzeit hat sich die rechtskonservative, evangelikale Senatorin Jeanine Áñez, die einst via Twitter „satanische indigene Bräuche“ unter Morales konstatierte und andere klerikal-fundamentalistische Geschmacklosigkeiten absonderte, trotz Beschlussunfähigkeit des Parlaments und des Rücktritts aller im Falle von Vakanz des Präsidenten in Frage kommender Kandidaten Juan Guaidó-Style selbst zur Übergangspräsidentin gekürt – auch sie argumentiert in klerikal-kolonialer Manier. „Wir bringen die Bibel zurück in den Palast“,so die Usurpatorin bei der Machtergreifung. Prompt kappte sie die außenpolitischen Beziehungen zu Venezuela und Kuba, wies alle venezolanischen Diplomat*innen aus dem Land aus, erkannte den demokratisch nicht legitimierten Putschisten Juan Guaidó als Präsidenten Venezuelas an und sorgte dafür, dass Bolivien aus den regionalen Bündnissen Unasur und Alba zurücktrat. Sogar liberal-bürgerliche Medien konstatieren angesichts ihrer geifernden Hasskommentare einen mäßig diplomatischen Stil. Ihre Partei, das Movimiento Demócrata Social (MDS, deutsch: Bewegung soziale Demokratie), steht über die Internationale Demokratische Union international in Verbindung mit der CDU/CSU und den Republikanern in den USA. Die Vereinigten Staaten, aber auch die BRD sind dann natürlich auch ganz vorne mit dabei in puncto Unterstützung des Militärputsches: Der Regierungssprecher der Bundesregierung, Steffen Seibert, sprach vom Militärputsch als einem „wichtige[n] Schritt hin zu einer friedlichen Lösung“, der außenpolitische Sprecher der Grünen, Omid Nouripour, gar von einer richtigen Entscheidung des Militärs. Dieinternationalen Großmedien – CNN, New York Times, BBC, Telegraph – leisten ideologische Schützenhilfe für die organisierte Barbarei.
Es ist offensichtlich: Der Putsch bezweckt die gewalttätige Wiederherstellung einer weiß-oligarchischen, neo-kolonialen, klerikalen und neoliberalen Hegemonie – teils mithilfe faschistischer Kräfte und auf dem Rücken der Indigen@s und des Großteils der Werktätigen in Bolivien. Der Großteil der Linken auf der Welt weiß um diese Zusammenhänge und verurteilt deshalb den Militärputsch in Solidarität mit der Regierung Morales und der Bevölkerung Boliviens. Die jeweilige Bewertung der Regierung Morales fällt dabei durchaus unterschiedlich aus. Das Spektrum reicht hier von Jeremy Corbyn, über AOC, Ilhan Omar, Tsipras, bis hin zum neuen, sozialdemokratischen Präsidenten Argentiniens Alberto Fernández oder dem linksnationalistischen Präsidenten Mexikos, Andrés Manuel López Obrador. Jetzt könnte man ja meinen, dass insbesondere die Involvierung des deutschen Imperialismus, zusammenfassend skizziert in einem Artikel des Nachrichtenportals German Foreign Policy, Anlass für eine deutsche Linke in ihrer Breite sein könnte, sich zumindest gegen den Putsch verbal zu äußern. Aber im selbstreferentiellen, politischen Provinzdorf Germania regt sich mal wieder kaum etwas. Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen – zum Beispiel verschiedene post-autonome Gruppen und Zusammenhänge, der Aufstehen-Flügel innerhalb der Partei DIE LINKE, die junge Welt, die DKP oder labournet – wird sich zum derzeit laufenden Militärputsch einfach nicht geäußert. Den Vogel schießen jedoch jene Teile der Linken ab, die in einer sagenhaften Verkehrung von Ursache und Wirkung den Putsch legitimieren, indem sie ihm absprechen, einer zu sein. Diese aktive Schützenhilfe für den Putsch wird dabei kurioserweise unter dem Deckmantel der „Demokratie“ geleistet. Hier betreiben öffentlichkeitswirksame Teile der deutschen Linken – nach Nicaragua und Venezuela nun erneut – eine perfide Form der Selbstprovinzialisierung in puncto Internationalismus. Zugleich fällt man wiederholt grob unsolidarisch und in metropolenchauvinistischer Manier den Genoss*innen in Lateinamerika ausgerechnet in der Stunde der Not und Verfolgung (!) in den Rücken. Es ist wahrlich ein deutsches Trauerspiel.
Ein Diskurs imperialer Dekadenz
Tenor der Anklage der hiesigen Wertelinken: Es handelt sich um den überfälligen „Rücktritt“ eines längst vom Paulus zum Saulus gewordenen, autoritären Präsidenten, der sich mit Wahlfälschung an der Macht halten wolle. Dessen zentrale Verfehlungen seien gewesen: Das Festhalten an einem extraktivistischen Modell, die dadurch entstehende Entfremdung von lokalen sozialen Kämpfen, das Nicht-Erfüllen von Umwelt- und Klimazielen, sowie die Umgehung eines Plebiszits und Beugung der Verfassung. Anklage Ende. Diese Anklage des westlichen Wertehorizonts reicht offensichtlich aus, um den Richterspruch im Eilschritt vorzunehmen und in der Stunde der Not das Urteil zu verkünden: Die Solidarität wird versagt. Der Angeklagte hat das Dilemma selbst zu verantworten.
So kann es dann passieren, dass das neue deutschland allen Ernstes eine „Pro und Kontra“-Kommentarreihe zur anscheinend uneindeutigen Frage bringt, ob ein vom Militär und klar rechten bis rechtsradikalen Kräften lancierter Putsch demokratische Potentiale birgt. Katharina Schwirkus führt in ihrem Kommentar „Loslassen lernen“ in vollkommener Ignoranz gegenüber dem Charakter der verschiedenen Akteur*innen, den Kräfteverhältnissen im Land und den sozialen Errungenschaften formaldemokratisch aus: „Es ist nicht schön, wie sich Evo Morales aus dem Präsidentenamt verabschieden musste. Für Boliviens Demokratie ist es aber wichtig und richtig, dass endlich jemand anderes auf Morales folgt“. Schließlich habe der Mann mit 13 Jahren lang genug regiert. Dabei ist bis zum heutigen Tag nicht klar, ob wirklich und wenn ja in welchem Umfang Wahlfälschung bei den Präsidentschaftswahlen am 20. Oktober stattgefunden hat: Ein detaillierter Bericht des CEPR zeigt auf, dass zunächst einmal nichts Verdächtiges darin zu sehen ist, dass Morales im Laufe des Abends plötzlich einen immensen Vorsprung erhielt, da die ruralen Gebiete, in denen Morales traditionell stark ist, erst später ausgezählt wurden und sich die Trendentwicklung der Auszählung konsistent entwickelte. Eine auf Einladung von Morales (!) vorgenommene unabhängige Prüfung der Wahlen seitens der OAS fand später zwar heraus, dass es schwere Sicherheitslücken im Vorgehen der mit der Prüfung der – rechtlich unverbindlichen! – vorläufigen Wahlergebnisse beauftragten Firma gab, konnte aber keine Wahlfälschung im rechtlich verbindlichen Endergebnis nachweisen. Vielmehr verwies der Bericht auf augenfällige und daher näher zu untersuchende Irregularitäten. Aber auch der OAS-Bericht stellt nicht in Frage, dass Morales eindeutig vorne lag, im gegenteil. Die ganze Frage dreht sich also darum, ob Morales mit zehn oder sieben Prozent Vorsprung vorne lag – niemand bestreitet, dass Morales seinen Hauptkontrahenten haushoch überlegen war. Aber egal, Hauptsache Morales muss weg. Dafür auch einen rechts-reaktionären Militärputsch in Kauf zu nehmen, ist, auf deutsche Verhältnisse übertragen, in etwa dasselbe wie von einem AfD-nahen Militärputsch gegen Merkel als „nicht schön, aber gut für die bundesdeutsche Demokratie“ zu reden, weil Merkel halt nun einmal viel zu lange – nämlich 16 Jahre – im Amt sei und ihre vereinbarten politischen Ziele nicht allesamt erreicht hätte.
Weiter geht es mit dem Kontra-Kommentar im nd, „Niederlage für die Linke“ von Christian Klemm. Der Artikel hat zwar den Vorzug, den Inhalt des Putsches als nicht sonderlich wünschenswert erkannt zu haben, disqualifiziert sich jedoch gleich zu Beginn mit der Feststellung: „Ob Putsch oder nicht – wie man das Ende der Präsidentschaft von Evo Morales in Bolivien nennt, ist Nebensache“. Als würde es hier nicht um einen Unterschied ums Ganze gehen! Insbesondere wenn in den neoliberalen Mainstream-Medien einmütig von „Rücktritt“ gesprochen und damit die Gewaltförmigkeit des Vorgangs und die Rolle des Militärs und fanatischer Rechter sowie ihrer politischer Perspektiven verharmlost wird. Dem Anspruch eines linken Blattes, das Gegenöffentlichkeit betreiben will, wird das jedenfalls nicht gerecht. [1]
Aber es kommt noch dicker. Die insbesondere in außenpolitischen Angelegenheiten inzwischen gänzlich neoliberale, auf Linie der Bundesregierung und NATO stehende tazstartet den Frontalangriff gegen jene wenigen Medien und Kommentare, die den Putsch als das darstellen, was er ist. In „Die Legende vom Putsch“ gibt sich der zuständige Auslandsredakteur der taz, Bernd Pickert, überhaupt nicht mal die Mühe, die sozialen und politischen Widersprüche im Land aufzudecken. Bei ihm geht alles um Morales persönliche Verantwortung – Tenor: „Morales hat sich mit seinem Machtanspruch verzockt“. Und: Der „Rücktritt“ sei als Konsequenz einer erfolgreichen sozialen Bewegung zu sehen, da sich die Polizist*innen und das Militär den Protestierenden gegen Wahlbetrug angeschlossen hätten. Noch am 16. November veröffentlicht die taz eine Reportage unter dem Telenovela-artigen Titel „Wir waren alle verliebt in ihn“ von Katharina Wojczenko, in dem Morales im Teaser allen Ernstes vorgeworfen wird, er würde das Land von Mexiko aus spalten (!), weil er sich gegen den Putsch stellt. Und das, obwohl in der genannten Reportage eine indigene Stimme den weißen Terror, der derzeit im Land wütet, luzide beschreibt und ein Pickert mittlerweileselber schon erkennt, was da mittlerweile im Präsidentschaftspalast los ist.
Zu diesem deckungsgleich zur bürgerlichen Presse auftretenden „linken Journalismus“ gesellt sich die Lateinamerika-Abteilung von medico international, die sich schon zu den Geschehnissen in Nicaragua an der Seite der rechten Opposition in den Ländern wähnte und beim Putschversuch in Venezuela Äquidistanz (ergo: Entsolidarisierung) propagierte. Das Narrativ ist hier stets identisch mit jenem neoliberaler Blätter, eine dialektische Analyse der Linksregierungen unter Einbezug der sozialen Frage und Errungenschaften wird nicht einmal versucht. Moritz Krawinkel, zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit in Bezug zu Lateinamerika, äußerte denn auch zu den aktuellen Geschehnissen via Twitter: „Trotzdem kann kaum von einem Putsch gesprochen werden, wie es jetzt große Teile der lateinamerikanischen Linken tun. Morales’ Rücktritt ist zu begrüßen, angesichts des Klammerns an der Macht von Ortega in Nicaragua und Nicolás Maduro in Venezuela ein wichtiges Zeichen“. Krawinkel begrüßt damit offen den Putsch durch rechte Kräfte. Auch hier der zynische Kommentar zum Ende, dass Morales den Putsch selbst zu verschulden habe.
Nach vorne, nicht in den Sumpf
In diesen innerhalb der Linken bedauerlicherweise wirkmächtigen Positionen wird die demokratische Frage tendenziell gegen, oder zumindest ohne die soziale und nationale Frage und ohne auf die konkreten Kräfteverhältnisse zu rekurrieren beantwortet. Vorherrschend ist eine Entkontextualisierung der Situation dieser Länder im imperialistischen Weltsystem und eine formaldemokratische Scholastik, die vollkommen abseits von Klassenauseinandersetzungen zu ihren Schlüssen kommt. Aber eben genau diese, die Grenzen einer Entwicklung eines nationallinken Programms unter einem unterdrückerischen imperialistischen System und die Fortsetzung dieser Verhältnisse durch die kollaborierende bolivianische Oligarchie, setzt dem progressiven Projekt in Bolivien, und nicht nur dort, reale Entwicklungsgrenzen. Den Genoss*innen in Bolivien etwa die Verfehlung der Klimaziele und mangelnden Umweltschutz aufgrund von Infrastruktur- und Lithiumabbauprojekten vorzuwerfen heißt, im Kontext des imperialistischen Weltsystems und der wirtschaftlichen Unterentwicklung Boliviens, den Bolivianer*innen zynisch zu gebieten, sie mögen bitte keinen Entwicklungsstand und Lebensstandard nach westlicher Fasson anstreben.
Der Militärputsch wird, wenn er Erfolg hat, nicht bloß die unter Morales erreichte „Umverteilung“ der Einkommen im Sinne der Ärmsten umkehren. Er wird auch nicht bloß die Grundlage dieser Umverteilung, die verstaatlichte nationale Wirtschaftspolitik, abschaffen. Er wird darauf abzielen, durch Repression und Terror jedwede soziale und politische Grundlage linker Perspektiven auf Jahre hinweg zu zerstören. Die hier bezweckte Demokratie ist die Demokratie der Friedhofsruhe. Das war schon immer die Funktion konterrevolutionärer Militärputsche im modernen Lateinamerika. Die Menschen und Genoss*innen in diesen Ländern wissen deshalb zumeist ganz genau, was sie erwartet, wenn die Konterrevolution siegt. Gerade deshalb erklärt sich vielleicht auch, warum trotz allen Mängeln, Fehlern und offensichtlich strukturellen Blockaden der Linksregierungen in Lateinamerika viele noch verbissen an ihnen festhalten, ja sich sogar eventuell mit ihnenüber-identifizieren, oder zumindest nicht die „Opposition“ in ihren „Demokratiebestrebungen“ unterstützen. Das ist auch etwas, was Teile der deutschen Linken in ihrem Metropolenchauvinismus schlicht und ergreifend nicht begreifen wollen. Nur eine wahrlich imperiale Dekadenz kann es sich leisten, „Demokratie“ im Sinne des Abtritts eines zunehmend autoritärer und selbstfixiert vorgehenden linken Präsidenten um jeden Preis, und sei es in Form eines rechten Militärputsches mit anschließender Verfolgung von Genoss*innen, als letztlich wünschenswert zu erachten.
Was in Lateinamerika mit den Linksregierungen versucht wurde, war eine Neuauflage der Volksfront-Regierung Salvador Allendes in Chile. Solche Regierungen charakterisieren sich durch einen nationalen Konsens, das heißt linke Transformationen durch klassenübergreifende (nationale) Bündnisse und Kräfteausgleich mit den nationalen Großbourgeoisien. Das Projekt der MAS [Movimiento al Socialismo, die Partei, der Morales angehört, Anm. Red.] in Bolivien gehört zu einer eher sozialistischeren Form dieses Regierungstypus, wie auch dasjenige in Venezuela. Andere Linksregierungen nahmen gar keine Verstaatlichungen vor, etwa in Nicaragua, Argentinien, Chile und Ecuador. Regierungen des nationalen Konsens können in peripheren Ländern partielle Fortschritte erkämpfen, geraten jedoch regelmäßig früher oder später in die politische Bredouille, da die Interessen der Kapitalist*innen und ihrer Verbündeten auf Dauer naturgemäß eben nicht identisch mit umfassender sozialer Umverteilungspolitik oder gar einer Transformation in Richtung Sozialismus sind. Das heißt, dass solche Regierungen optimalerweise von einer starken sozialen und demokratischen Bewegung von links zu weitergehenden Maßnahmen, wie zum Beispiel der Nationalisierung der Privatwirtschaft, getrieben werden müssen. Diese Kraft von links blieb bislang aus verschiedenen Gründen in den verschiedenen Ländern aus – und darin haben die jeweiligen Linksregierungen selber sicher einen großen Anteil. Der nationale Konsens muss dann gerade bei abfallender popularer Unterstützung, wie in Bolivien, und/oder wenn die wirtschaftlichen Grenzen des nationalen Entwicklungsmodell erreicht sind, auseinanderbrechen. Was folgt ist zumeist Bürgerkrieg, anhaltende Unruhe, Putsch und Rollback – oder Revolution, je nach Kräfteverhältnissen.
Die lateinamerikanischen Linksregierungen, und da ist Bolivien keine Ausnahme, haben den Fehler begangen, den linksnationalen Klassenkompromiss als dauerhaft haltbare politische Konstellation statt als vorübergehenden Kompromiss zu begreifen, der ab einem bestimmten Punkt einer sozialen und revolutionären Offensive weichen muss. So kam es zu Rollback (Ecuador), Putsch (Brasilien, Argentinien, Honduras, Bolivien) und Destabilisierung und tiefe Krise (Nicaragua, Venezuela) statt zu Revolution und Vertiefung des sozialistischen Prozesseses. Die Linksregierungen sind in ihren konzeptionell gesetzten Grenzen stecken geblieben. Sie waren auf der einen Seite zu bürgerlich-autoritär, indem sie sich auf das innerhalb der gegebenen Ordnung Erreichte festklammerten statt real populare Gegenmacht und damit echte sozialistische Demokratie aufzubauen und zu institutionalisieren, um dann den Revolutionierungsprozess nach vorne zu bringen. Andererseits – und das erwähnen jene Kritiker*innen“ aus dem Provinzdorf Germania eigentlich nie – waren sie nicht autoritär genug: Sie haben die Kapitalist*innen, wenn überhaupt, nach einem ersten Schwung nicht mehr weiter enteignet und die politischen Organisationen der teils faschistoid-klerikalen Konterrevolution niemals wirklich zerschlagen; sie haben die repressiven Staatsapparate – bis auf die Ausnahme Venezuelas – nicht grundlegend umgestaltet. Auf regionaler Ebene haben sie es nicht geschafft – dafür reichte vielleicht auch einfach ihre Kraft nicht aus – einen alternativen Wirtschaftsblock gegenseitiger Unterstützung und Entwicklung aufzubauen, der die Abhängigkeit von Extraktivismus und Bauwirtschaft (wie zum Beispiel in Brasilien) hätte überwinden können in Richtung eines produktiveren und zugleich nachhaltigeren Wirtschaftsmodells.
Das ist aber alles kein Grund sie jetzt der konterrevolutionären Reaktion preiszugeben. Sie stellen angesichts des kontinentalen Rechtsrucks Bollwerke mit sozialen Errungenschaften gegen die tobende Konterrevolution dar. Die Konterrevolution hingegen stellt in keinem der Länder, in denen sie ihr Haupt erhebt, ein reales Demokratisierungspotenzial oder gar einen sozialen Fortschritt dar. Etwas Gegenteiliges zu behaupten ist schlicht und ergreifend imperialistische und oligarchische Ideologie oder Projektion der Metropolenlinken. Es ist gleichzeitig offensichtlich, dass die Linksregierungen in Lateinamerika an einem Scheideweg stehen. Die Massen der Werktätigen in den Ländern sind zurecht nicht mehr zufrieden mit der Situation, deshalb gehen auch sie in vielen dieser Länder auf die Straßen oder entziehen den Regierungen teils ihre Unterstützung. Die Konterrevolution hingegen versucht überall diese Situation auszunutzen, um sich aus der vormals degradierten Position erneut emporzuheben. Dort muss die Linke und insbesondere die revolutionäre Linke die Konterrevolution ohne Wenn und Aber bekämpfen. Sie muss aber gleichzeitig dafür streiten, sich nicht den nationalen Linksregierungen bloß unterzuordnen. Die revolutionäre Linke muss ihre Autonomie bewahren und zusätzlich zum Kampf gegen die Konterrevolution die Entwicklung eines Modells zur Überwindung der Strukturblockade der lateinamerikanischen Revolutionen anvisieren – und zwar nach vorne, Richtung Sozialismus. Darin müssen sie unsere Solidarität haben.
Aber eigentlich sind unsere Aufgaben ganz andere. Unsere Aufgabe in den imperialistischen Zentren ist es, uns wieder unseren Hauptaufgaben in puncto Internationalismus zuzuwenden, namentlich Politik vor Ort gegen den Hauptfeind zu machen, um den Genoss*innen dort mehr Handlungsspielräume zu eröffnen. Da geht es nicht nur darum, die Unterstützung des deutschen oder us-amerikanischen Imperialismus für die bolivianische und sonstige lateinamerikanische Oligarchie zu entlarven und zu brandmarken (und optimaler Weise zu sabotieren). Es geht auch um viel „handfestere“ und perspektivisch zentralere Dinge: Statt in erster Linie die ökologisch unbestreitbar megadestruktiveWirtschaftspolitik der jeweiligen Linksregierungen zu kritisieren, sollten wir uns darum kümmern, Konzepte und eine Politik zu entwickeln, die dafür sorgen, dass eine Umkehr ehemals kolonialer und heute imperialistischer Renten in den „Globalen Süden“ stattfindet, damit deren Industrieentwicklung in im sozialen und ökologischen Sinne nachhaltige Bahnen gelenkt werden kann. Das Mindeste könnte sein, für ein umfassendes finanzielles und technologisches Transfersystem von den imperialistischen Zentren zur Peripherie zu streiten, das nicht an neoliberale Bedingungen (Zwang zur Privatisierung, Öffnung der Länder für Kapitalinvestitionen zu Sonderkonditionen und so weiter) geknüpft ist, wie das die „Entwicklungsprogramme“ der G20 für Afrika und ähnliche vorsehen. Wenn wir anfangen, solcherlei Art oder ähnliche Dinge hier zu fordern und dafür zu streiten, dann wird es natürlich ungemütlich werden, da wir dann gegen starke Kapitalinteressen hier kämpfen werden müssen; studierstubenartig abwägend und in Äquidistanz zu den involvierten Kräften in den jeweiligen Ländern Lateinamerikas die Linke dort zu kritisieren ist da natürlich viel gemütlicher. Nur werden wir, falls wir das weiter so betreiben, damit schlicht die weitere Selbstprovinzialisierung der deutschen Linken im Angesicht der Entwicklungen weltweit und insbesondere der Linken weltweit erreichen. Sonst nichts. Es macht Mut, dass die Jüngeren unter uns da offensichtlich weiter blicken und zum Beispiel der Meinung sind, dass Klimagerechtigkeit eine politische Frage ist, die global und zwar im Kampf gegen die Ungleichheiten eines ungleich gestalteten Weltsystems zu erringen ist und nicht mit abstrakten Parolen und Herangehensweisen, die jene Ungleichheiten reproduzieren. Mögen ihr frischer Wind uns allen hoffentlich dabei helfen, die deutsche Linke zu – revolutionieren!