Warum es in Bolivien einen Putsch gab

12. November 2019 Harald Neuber, telepolis

 

 

In westlichen Medien ist gemeinhin vom „Rücktritt“ des bolivianischen Präsidenten Evo Morales die Rede. Das ist falsch

Boliviens gewählter Präsident Evo Morales ist in der Nacht zum heutigen Dienstag nach Mexiko evakuiert worden, nachdem ihm die mexikanischen Regierung Asyl gewährt hat. Die mexikanische Luftwaffe flog ihn aus Chimoré im Departement Cochabamba aus.

Morales hatte sein Amt am Sonntag inmitten einer Welle von Rücktritten von Ministern, Abgeordneten und regionalen Funktionären seiner „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS) niedergelegt. Zuvor hatten die Oberkommandierenden der Armee und der Polizei ihn zu diesem Schritt aufgefordert, während Oppositionelle Vertreter des Regierungslagers massiv bedrohten.

„Schwestern und Brüder, ich gehe nach Mexiko, dankbar für die Selbstlosigkeit der Regierung dieses Brudervolkes, das uns Asyl geboten hat, um sich um unser Leben zu kümmern“, schrieb Morales auf Twitter: „Es tut mir weh, das Land aus politischen Gründen verlassen zu müssen. Bald werde ich mit mehr Kraft und Energie zurückkehren.“

Morales bekräftigte, dass „die Polizei sich gegen einen Präsidenten erhebt und die Streitkräfte den Rücktritt eines Präsidenten fordern, der das einfache Volk vertreten hat“. Zugleich verteidigten Polizei und Streitkräfte neoliberale Politiker, die die Wirtschaftsmacht in ihren Händen halten, „und unterdrücken Menschen, die die Demokratie, Gerechtigkeit, Frieden und Gleichheit verteidigen“.

Während der gewählte Präsident das Land verlassen hat und Bolivien in ein Machtvakuum gestürzt ist, übernimmt die Armee in einem immer stärkeren Ausmaß die Kontrolle in den Straßen. „Die Soldaten werden gemeinsam mit der Polizei vorgehen, um Blutvergießen und Leid zu verhindern“, sagte der Oberkommandierende der Streitkräfte, Williams Kaliman. Man werde mit „angemessener Gewalt“ gegen marodierende Gruppen vorgehen, „die Schrecken unter der Bevölkerung verbreiten.“

Trotz dieser Entwicklung, ungeachtet des Umstandes, dass Morales sein Mandat noch bis Januar innehat und Bolivien zum ersten Mail seit dem Ende der Militärdiktaturen der 1980er Jahre nicht mehr demokratisch regiert ist, wird ein Staatsstreich von der bolivianischen Opposition in Teilen der westlichen Presse in Abrede gestellt. Eine Aufklärung in vier Punkten.

1. Es ist ein Putsch, weil ein Wahlbetrug nie bewiesen wurde

Die Kontroverse um das Wahlergebnis entzündete sich vor allem an der sogenannten Schnellauszählung (Transmisión de Resultados Electorales Preliminares, TREP). Sinn dieser vorläufigen und unvollständigen Auszählung ist es, noch am Wahlabend möglichst schnell erste Ergebnisse bekannt zu geben.

Als das TREP-System noch am Wahlabend 83,85 Prozent der Wahlzettel erfasst hatte, gab die Wahlbehörde eine erste Pressekonferenz. Morales lag zu diesem Zeitpunkt bei 45,71 Prozent und Mesa 37,84 Prozent, eine Differenz von 7,87 Prozentpunkten. Oppositionskandidat Mesa verkündete umgehend, es werde eine Stichwahl geben, weil der Abstand zu Amtsinhaber Evo Morales weniger als zehn Prozent betrage. Die Aussage basierte aber eben nicht auf dem amtlichen Endergebnis.

Zu diesem Zeitpunkt – und das befeuerte die Kontroverse – stoppte die Wahlbehörden OEP die Schnellauszählung. Die OAS, Mesa und andere Akteure verurteilten das Vorgehen der OEP und forderten, die Schnellauszählung wieder aufzunehmen. Das machte im Grunde keinen Sinn, denn auch in der Vergangenheit sind mit dem TREP-System nie alle Stimmen erfasst wurden.

Zudem lief die offizielle Wahlauswertung weiter. Vor allem die Auswertung der Ergebnisse aus dem entfernten ländlichen Gebieten nahm stets mehr Zeit in Anspruch. Schließlich stand die Wahlbehörde derart unter Druck, dass sie nach 96,63 Prozent ausgewerteter Stimmzettel die Veröffentlichung der TREP-Ergebnisse wieder aufnahm.

Plötzlich lag Morales mit 46,86 Prozent in Führung und Mesa kam auf 36,72 Prozent. Der Abstand betrug demnach knapp mehr als zehn Prozentpunkte. Aus Akten des verantwortlichen Softwareunternehmens Neotec geht hervor, dass der Unterschied auf die Auswertung von 3.833 Ergebnisprotokollen aus den Wahllokalen zurückzuführen ist. Diese Zahl stimme exakt mit der Gesamtzahl der ausgewerteten Protokolle und auch mit der parallel laufenden offiziellen Stimmzählung überein.

Die Opposition sprach dennoch umgehend von Betrug und begann ihre Mobilisierungen. Befeuert wurde sie von der OAS-Wahlbeobachtermission, die von einer „unerklärlichen Trendwende“ sprach. Wohlgemerkt: Alle diese Äußerungen wurden getätigt, bevor das Endergebnis vorlag und bevor eine Überprüfung stattgefunden hat.

Tatsächlich hatte die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) diese Methode, die auch in anderen Ländern angewandt wird, empfohlen. Die OAS hat zudem in keinem ihrer bisherigen Berichte eine Manipulation nachgewiesen. In ihrem letzten Bericht spricht sie von Unregelmäßigkeiten in 78 Ergebnisprotokollen, das sind bei einer Gesamtzahl von 34.555 dieser Datensätze exakt 0,22 Prozent.

Das lässt sich schwerlich als „weit verbreitete, schwere Unregelmäßigkeiten“ bezeichnen, die Regierungssprecher Steffen Seibert am Montag in der Bundespressekonferenz zu erkennen meinte.

2. Es ist ein Putsch, weil sich Polizei und Armee gegen die Regierung gestellt haben

Der Staatsstreich, der in westlichen Medien gemeinhin als Rückritt von Evo Morales präsentiert wird, nahm seinem Anfang mit dem Überlaufen von Armee und Polizei zu den Regierungsgegnern. Der Oberbefehlshaber der bolivianischen Streitkräfte, Williams Kaliman, und der Oberbefehlshaber der bolivianischen Polizei, Yuri Calderón, forderten am Wochenende den Rücktritt von Präsident Morales.

Dies sei notwendig, um Bolivien aus der sozialen und politischen Krise zu führen, die das Land seit den Wahlen am 20. Oktober erlebe. Kaliman und Calderón verlasen am Sonntag zwei Kommuniqués, in denen sie Morales zum Rücktritt aufforderten. Auch kündigte die Armee am Sonntag auch Luft- und Bodenoperationen gegen „illegale und bewaffnete Gruppen“ an, nachdem nach zu Angriffen auf Busse mit Regierungsgegnern gekommen war. Zugleich gab es Berichte über Angriffe von Scharfschützen auf Morales-Anhänger, die nach La Paz vorzudringen versuchen.

Auf dem zentralen Prado-Boulevard in La Paz und Oruro marschierten derweil Dutzende Polizisten in einer Reihe mit Regierungsgegner und skandierten Slogans gegen Morales, wie es in einem Korrespondentenbericht der Nachrichtenagentur AFP heißt. Als die Einwohner der Stadt El Alto im Departement La Paz am Montag gegen den Staatsstreich protestierten, wurden sie von Polizei massiv attackiert.

Dabei kam ein kleines Mädchen ums Leben. „Nach dem ersten Tag des Putsches geht die meuternde Polizei mit Schusswaffen vor und provoziert Tote und Verletzungen in El Alto. Meine Solidarität mit den unschuldigen Opfern, darunter ein Mädchen, und dem heldenhaften Volk in el Alto, das die Demokratie verteidigt“, schrieb Morales auf Twitter.

Polizei und Armee haben den Staatsstreich durch ihr politisches Agieren und das Überlaufen zu den Regierungsgegnern erst ermöglicht. Zumindest die Polizei ist bislang – in einem kompletten Machtvakuum – führend daran beteiligt, Proteste Indigener und andere Anhänger der Bewegung zum Sozialismus mit zunehmender Brutalität zu unterdrücken. Und das, obwohl Morales mit knapp 47 Prozent der Stimmen de facto Wahlsieger ist.

Drittens: Es ist ein Putsch, weil er mit Terror gegen Regierungspolitiker und ihre Familien einherging

„Wir treten zurück, damit meine indigenen Schwestern, wie in Santa Cruz und Cochabamba, nicht weiter attackiert werden. Jetzt können (Gegenkandidat Carlos) Mesa und (der Oppositionspolitiker Luis Fernando) Camacho zufrieden sein. Ich will keine Konfrontationen“, sagte Morales in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Vizepräsident Álvaro García Linera und Gesundheitsministerin Gabriela Montaño.

Morales bat ausdrücklich darum, Angriffe auf Privathäuser einzustellen. Zuvor war auch das Haus seiner Schwester Esther in Brand gesteckt worden. Das war kein Einzelfall: In sozialen Netzwerken beklagten vor allem Angehörige der nun gestürzten Bewegung zum Sozialismus (MAS) Angriffe auf ihre Privathäuser.

  • Zuletzt wurde in der Stadt Cochabamba das Haus von Präsident Morales gestürmt und geplündert. „Hurensohn“, sprühten die Regierungsgegner in den Treppenaufgang.
  • Víctor Borda, der MAS-Präsident des Abgeordnetenhauses, trat von allen Posten zurück und legte sein Mandat nieder, nachdem sein Haus angezündet und sein Bruder von oppositionellen „Bürgerkomitees“ entführt worden war.
  • Am vergangenen Mittwoch brannte ein Mob das Bürgermeisteramt der bolivianischen Stadt Vinto nieder. Die Demonstranten zogen die Bürgermeisterin Patricia Arce (MAS) aus dem Gebäude, schnitten ihr die Haare ab, übergossen sie mit roter Farbe und trieben sie durch die Straßen. Arce wurde schließlich von Polizisten in Sicherheit gebracht.
  • In Quillacollo entführte eine radikale Oppositionsgruppe den ehemaligen Vorsitzenden der Gewerkschaft CSUTCB, Feliciano Vegamonte. In einem online verbreiteten Handyvideo ist zu sehen wie 15 Regierungsgegner den Mann zwingen, sich auf den Boden zu knien und um Vergebung zu bitten.

In den meisten Fällen zielten diese oft rassistisch motivierten Angriffe der meist weißen Regierungsgegner darauf ab, Funktionsträger der indigen dominierten MAS einzuschüchtern und zum Rücktritt zu bewegen. Motorisierte Kommandos wie die Gruppierung Resistencia Cochala fuhren (und fahren) durch die Straßen und machen Jagd auf mutmaßliche Regierungsanhänger.

In ihr Visier gerät, wer indigen aussieht. Die politische Gewalt und Einschüchterung der sogenannten Bürgerkomitees ist damit ein zentraler Aspekt dieses Putsches.

4. Es ist ein Putsch, weil es der Opposition nie um die Wahlen ging

Und schließlich wurde mit den Geschehnissen am vergangenen Sonntag deutlich, dass es – entgegen aller Bekundungen der Opposition und ihrer Unterstützer im Ausland – nie um die Frage der Stichwahl ging, sondern von vornherein um den Sturz der MAS-Regierung.

Zuletzt hatte Morales neben einer kompletten Überprüfung der Wahl durch die OAS politische Gespräche mit der Opposition und schließlich Neuwahlen angeboten. „Ich habe nichts mit Evo Morales und seiner Regierung zu verhandeln“, antwortete Mesa in einer Videobotschaft – und lehnte damit eine politische Lösung der Krise ab.

Auch der Anführer des radikalen Bürgerkomitees aus Santa Cruz, Luis Fernando Camacho, wollte von einer Überprüfung der Ergebnisse und Neuwahlen nichts mehr wissen. Er forderte ebenso den Rücktritt von Morales und die Bildung einer „Regierungsjunta“. Damit stelle sich die Opposition zuletzt sogar gegen die Position der OAS, nach der Morales und sein Vize García Linera im Amt bleiben sollten, bis die Abstimmung wiederholt wird.

Bolivianische Medien haben mehrere Audiodateien veröffentlicht, in denen Oppositionsführer einen Staatsstreich gegen Morales beraten. Ein entsprechender Plan sollte schon vor der Wahl von der US-Botschaft in Bolivien koordiniert werden.

Die US-Senatoren Ted Cruz und Marco Rubio wurden als direkte Kontakte für die bolivianische Opposition genannt. Sollte Morales die Wahlen am 20. Oktober gewinnen, müsse eine zivil-militärische Übergangsregierung gebildet werden. Auch der Angriff auf Gebäude der Regierungspartei sowie die kubanische Botschaft und ein Generalstreik wurden diskutiert.

Entsprechend fielen die Bewertungen der USA und ihrer Alliierten in der Region aus. Venezuelas selbsternannter Interimspräsident Juan Guaidó schrieb von einer „Brise von Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie“.

US-Präsident Donald Trump bezeichnete den Sturz Morales’ als „bedeutenden Moment für die Demokratie“ in Lateinamerika: „Diese Ereignisse sind ein starkes Signal an die illegitimen Regime in Venezuela und Nicaragua, dass Demokratie und der Wille des Volkes immer vorherrschen werden.“

 

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