Staat und Kaptital – Text zum Wahlboykott

Staat und Kapital

Der Staat ist in unserer Gesellschaft allgegenwärtig. Er begegnet uns im Alltag überall und in verschiedenster Art und Weise – mal beiläufig und verdeckt, mal offensichtlich und direkt. Ob als Mehrwertsteuer an der Supermarktkasse, als Lehrerin, die uns im Unterricht gegenüber steht oder als Gericht, das den Mietdeckel kippt, weil er verfassungswidrig sei. In Zeiten der Corona-Pandemie tritt der Einfluss des Staates nochmal viel deutlicher in Erscheinung: Mit Ausgangssperren und Kontaktbeschränkungen hat sich der staatliche Einfluss auf unser aller Leben in heftiger Weise greifbar gemacht.

Zwar sind der Staat und seine Institutionen überall, aber es ist gar nicht so einfach, genau zu sagen, was der Staat ist und was er macht. Dementsprechend gibt es viele unterschiedliche Vorstellungen von dem, was der moderne Staat ist, was seine Aufgaben sind und wie er funktioniert. Am geläufigsten ist die Auffassung, dass der Staat eine neutrale Instanz sei, die den Willen des Volks umsetzt und zum Wohl aller die freiheitliche und demokratische Grundordnung gewährleistet.

Diese Auffassung von Staat wird vor allem aus liberalen und konservativen Standpunkten heraus vertreten, zB. wenn sich Menschen aus Politik, Wirtschaft oder anderen hochrangigen Ämtern zu diesem Thema äußern. Auch im Schulunterricht, von JournalistInnen oder von zB. Polit-InfluencerInnen auf Twitter und Instagram wird uns diese Darstellung immer wieder dargeboten. Gerade in der heißen Phase des Wahlkampfes berufen sich PolitikerInnen fast aller Parteien auf dieses Staatsverständnis: sie gehen auf Stimmenfang, indem sie sich als VertreterInnen der Interessen der kleinen Leute und als Verkörperung des Gemeinwohls darstellen.

Währenddessen machen zahlreiche Personen und Organisationen der Zivilbevölkerung kostenlose Werbung für die Parteien, indem sie in das ewige Lied von Freiheit, Grundgesetz und Mitbestimmung mit einstimmen. Derartige Versprechungen sind geradezu zynisch: wenn doch das Leben vieler von uns eher einem Kampf ums Überleben gleicht, in einer Gesellschaft die von allgegenwärtiger Konkurrenz und Abhängigkeit geprägt ist.

Trotz dessen werden Grundgesetz und Parlament von den PolitikerInnen und ihren FürsprecherInnen als alternativlos hingestellt; der Gang zur Wahlurne wird als wichtigste Form der Mitbestimmung verherrlicht. Unter anderem auf YouTube und Telegram oder auf bei öffentlichen Demonstrationen und Kundgebungen werden aber auch diffuse Verschwörungserzählungen über den Staat verbreitet, die ihn in der Hand von wenigen reichen Juden sehen oder in dem die Strippen von geheimen Schattenregierungen gezogen werden. Allerdings sind solche Vorstellungen von Staat entweder stark idealistisch oder sie mystifizieren die Rolle des Staates. Sie haben gemeinsam, dass ihnen eine verkürzte Analyse vom Staat zu Grunde liegt.

Wie die Produktion unser Leben bestimmt

Um seine gesellschaftliche Funktion zu durchblicken, ist es nicht zielführend, den Staat als gesonderte Ebene zu begreifen – vielmehr muss man erst die Gesellschaft als Ganzes betrachten. Ausgehend davon können wir die Rolle des Staates einordnen und erklären. Gesellschaft wird verstanden als die Gesamtheit der Beziehungen, die wir als Menschen zueinander eingehen.

Ihr grundlegender Bestandteil ist die Wirtschaft, insbesondere die materiellen Produktionsverhältnisse: also die Art und Weise, wie wir Menschen als Gesellschaft unsere Lebensgrundlagen herstellen; wie Nahrung erzeugt, Kleidung angefertigt wird oder Wohnungen gebaut werden; wie gesellschaftlich medizinische Versorgung bereitgestellt wird oder Angebote zur Freizeit und Erholung geschaffen werden.

Wie wir produzieren, wirkt sich aber auch maßgeblich darauf aus, wie wir leben. Indem wir materielle und andere Güter zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse erzeugen, gehen wir bestimmte soziale Beziehungen zu einander ein. So erzeugen wir als Gesellschaft unsere eigenen Verhältnisse und Lebensbedingungen. Beispielsweise stehen die LohnarbeiterInnen eines Unternehmens in einem ganz bestimmten (Abhängigkeit-)Verhältnis zu ihrem Chef; hier geht man innerhalb der gesellschaftlichen Produktion eine soziale Beziehung ein, die von dem Zusammenhang zwischen Unternehmer und Arbeiter geprägt ist.

Auch zB. bei einem Einkauf gehen wir ein bestimmtes gesellschaftliches Verhältnis ein: das von Käufer und Verkäufer. Diese und andere gesellschaftliche Verhältnisse sind allgegenwärtig, sie beherrschen unsere zwischenmenschlichen Kontakte, aber auch die Gesellschaft als Ganzes und unsere soziale Stellung, die wir darin einnehmen. Letztere ergibt sich vor allem in der jeweiligen Stellung einer Person in der gesellschaftlichen Produktion.

So ist zB. die gesellschaftliche Stellung eines Fabrikarbeiters vor allem dadurch geprägt, dass er fünf Tage in der Woche seine Arbeitskraft verkaufen muss, da-mit er sich von seinem Lohn Lebensmittel, Wohnung und andere Dinge leisten kann, um seine Familie ernähren und seine Arbeitskraft wiederherstellen zu können.

Der Chef des Fabrikarbeiters hingegen lässt vor allem andere für ihn arbeiten und Produkte herstellen. Diese verkauft er wiederum in Form von Waren. Den Profit, den der Chef beim Verkauf der Waren erhält, streicht er sich selbst ein und kann davon wesentlich besser leben, als es sich der Arbeiter auch nur erträumen kann. Aus diesen Produktionsverhältnissen ergeben sich bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse, die in der Aufteilung der Gesellschaft in Klassen zum Ausdruck kommen.

Die Lebensrealitäten der unterschiedlichen Klassen stehen in erheblichem Kontrast zueinander; Die Lebensrealität eines Amazon-Paketboten und die Lebensrealität von Amazon-Chef Jeff Bezos könnten unterschiedlicher nicht sein.

Gesellschaft im Kapitalismus

Die aktuell weltweit vorherrschende Gesellschafts- und Wirtschaftsform ist der Kapitalismus. Genau wie der moderne Staat ist auch die kapitalistische Produktionsweise das Ergebnis geschichtlicher Entwicklungen und sozialer Kämpfe; sie unterscheidet sich maßgeblich von vergangenen Gesellschaftsformen. Immerhin leben wir ganz anders als im Mittelalter: wenige von uns leben noch mit ihrer Großfamilie in kleinen Dörfern, wir pflügen unsere Felder heute nicht mehr mit dem Pferd, kein Fürst und kein König bestimmt über unser Leib und Leben.

Heute leben die meisten von uns in Städten, alleine, zu zweit oder mit kleiner Familie in engen Wohnungen, wir fahren mit der Straßenbahn zur Arbeit und verbringen unsere Freizeit mit elektronischen Geräten. Ein zentrales Wesensmerkmal der kapitalistischen Gesellschaft ist das Privateigentum an Produktionsmitteln. Produktionsmittel sind alle Arbeitsmittel und -gegenstände, die eingesetzt werden, um andere Güter zu erzeugen oder Dienstleistungen bereitzustellen. Im Kapitalismus sind diese Produktionsmittel, z.B. Rohstoffe, Maschinen, Gebäude oder Transportmittel zum allergrößten Teil in privater Hand. Das heißt, einzelne UnternehmerInnen, sogenannte Kapitalisten, oder auch Unternehmergruppen sind im Besitz der Produktionsmittel und können darüber entscheiden, wie sie eingesetzt werden, wie sie damit wirtschaften und haushalten. Aus diesem Eigentumsverhältnis ergibt sich ein bestimmtes gesellschaftliches Verhältnis.

Im Kapitalismus steht nämlich der zahlenmäßig kleinen, herrschenden Kapitalistenklasse der Großteil der Menschen gegenüber, die nicht im Besitz von Produktionsmitteln sind. Das heißt auch, dass nur wenige Menschen wirklich darüber entscheiden können, wie z.B. die medizinische Versorgung gewährleistet wird oder wie Wohnungen gebaut werden. Denn die allermeisten von uns sind eben nicht Eigentümer von Produktionsmitteln.

Um uns trotzdem eine Lebensgrundlage zu schaffen, sind wir dazu gezwungen, unsere Arbeitskraft an Unternehmen zu verkaufen. Die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen wir leben, unsere Lebenswelt und die Beziehungen die wir untereinander als Menschen eingehen, sei es privat, beruflich oder öffentlich, sind also vor allem bestimmt von der Art und Weise, wie wir produzieren und wirtschaften.

Zum Beispiel sind die zwischenmenschlichen Verhältnisse Ehe und Familie maßgeblich von unserer Produktionsweise geprägt: Sie sind Ausdruck der Trennung von Wohnort und Arbeitsplatz; die gesellschaftlich übliche Belastung der Frau mit Haushalt, Schwangerschaft und Erziehung dient einer wirtschaftlich gewünschten Verfügbarkeit und Wiederherstellung von Arbeitskraft.

So werden zwischenmenschliche Beziehungen geprägt von ihrer wirtschaftlichen Funktion. Dementsprechend lässt sich auch die Funktion des Staates nur im Verhältnis zu den ökonomischen Gegebenheiten verstehen. Der Staat steht in einer bestimmten Beziehung zu der kapitalistischen Produktionsweise. Dieses Verhältnis gilt es, zu analysieren, damit wir die Rolle des Staates in unserer Gesellschaft verstehen können.

Der Staat und das Kapital

Anders als in früheren Gesellschaftsformen tritt der moderne Staat als öffentliche, unpersönliche Macht auf und ist von der Gesellschaft und der Produktion in weiten Teilen scheinbar getrennt. Aber warum ist der moderne Staat nicht als Apparat in der Hand einzelner Unternehmer, so wie es auch der allergrößte Teil der Produktionsmittel ist? Warum läuft die politische bzw. staatliche Macht nicht in der Hand einzelner privater Unternehmen zusammen?

Dagegen sprechen einige Wesensmerkmale und Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus. Damit er als Wirtschafts- und Gesellschaftssystem funktionieren kann, benötigt der Kapitalismus den Staat – und zwar als öffentliche Instanz. Zuallererst bietet der Staat die rechtliche Grundlage für die kapitalistische Wirtschaftsform. Viele ihrer zentralen Wesensmerkmale bedürfen dieser rechtlichen Grundlage in Form von Gesetzen. So z.B. das Recht auf Privateigentum an Produktionsmitteln.

Zwei weitere Wesensmerkmale der kapitalistischen Gesellschaft fordern ein staatlich ab-gesichertes Rechtsverhältnis: Warenproduktion und Warentausch. Die kapitalistische Produktionsweise erzeugt Produkte vor allem in Form von Waren. Das heißt, dass weniger der Gebrauchswert der Güter, also ihr tatsächlicher Nutzen, gesellschaftlich relevant ist, sondern vordergründig ihr Tauschwert. Dieser Tauschwert tritt erst im Warentausch in Erscheinung, wenn also ein Produkt für Geld auf dem freien Markt verkauft bzw. gekauft wird.

Der Warentausch ist in unserer Gesellschaft allgegenwärtig, ob im Kleinen beim ganz alltäglichen Einkauf im Supermarkt oder im großen Stil, z.B. bei industriellem Handel. Voraussetzung für den Warentausch ist, dass sich die Menschen als Privateigentümer an-erkennen: beim Einkauf im Supermarkt erkenne ich an, dass die Waren solange Eigentum des Einzelhändlers sind, bis ich sie gegen mein Eigentum, das Geld getauscht habe.

Beim Warentausch veräußert der Verkäufer eine Ware. Der Käufer eignet sich die Ware an, indem er sie kauft. Dieser gemeinsame Willensakt hat die Rechtsform des Vertrages. So gehen wir z.B. mit jedem Einkauf im Supermarkt einen Kaufvertrag ein. Selbst der einfache Arbeiter veräußert etwas in Form von Waren – die Ware Arbeitskraft. Darauf weist z.B. der Begriff „Arbeitsmarkt“ hin.

Genau wie auf dem Markt kann ich auf dem Arbeitsmarkt meine Ware Arbeitskraft frei „anbieten“ und jeder Unternehmer kann diese Ware gegen Geld kaufen – falls beide dem Tausch mit einem Arbeitsvertrag zustimmen. Rechtlich kann mich keiner dazu zwingen, meine Arbeitskraft an einen bestimmten Unternehmer zu verkaufen.

Der Staat als Garant des freien Marktes

Im Gegensatz zu vergangenen Gesellschaftsformen eignet sich der Kapitalist Arbeitskraft und die Arbeitsprodukte nicht über direkte, körperliche Gewalt an. Im Gegenteil: Er tut es im Warentausch, einem „freien“ Willensakt, in Form von Verträgen. Der Warentausch funktioniert nur wirklich, wenn sich keine der Vertragsparteien zum eigenen Vorteil gewaltvoll über dieses Rechtsverhältnis hinwegsetzt. Damit dies gewährleistet ist, benötigt die kapitalistische Wirtschaftsform eine separate, öffentliche Instanz. Diese Funktion nimmt der Staat ein. Er hat das Gewaltmonopol inne: der Staat hat die alleinige Macht über Polizei im Innern und Militär im Äußeren, um das Recht zu garantieren und Vertragsverletzungen zu bestrafen.

Der Staat als ideeller Gesamtkapitalist

Wie wir gesehen haben, bietet der moderne Staat die rechtliche Grundlage für die kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Damit individuelle Rechte, Verträge und der Schutz von Privateigentum (an Produktionsmitteln) garantiert werden können, braucht es das staatliche Gewaltmonopol.

Zusätzlich sind die ebenfalls staatlichen Gerichte und Staatsanwaltschaften dafür zuständig, Konflikte rechtlich zu regeln, Vertragsverletzungen zu verfolgen und ggf. mit Strafen zu belegen. So kann zwischen Bestrebungen verschiedener kapitalistischer Interessen auf rechtlicher Grundlage vermittelt werden. Dabei vertritt der Staat zwar im Idealfall nie das Interesse einzelner Kapitalisten, aber immer das Interesse des Kapitals als Ganzes.

Denn auch wenn die verschiedenen Unternehmen und Wirtschaftsverbände das Streben nach Profit und Wachstum teilen, stehen sie trotzdem in wirtschaftlicher Konkurrenz zu einander. Dementsprechend verfolgen z.B. Autoindustrie und Energiebranche zum Teil gegensätzliche Interessen, die sie mithilfe von Lobbygruppen, Wahlkampfspenden und ehemaligen PolitikerInnen in Aufsichtsräten geltend machen.

Wahlergebnisse und politische Parteien sind Ausdruck dieser unterschiedlichen wirtschaftlichen Lager. Konflikte zwischen den „Kapitalparteien“ werden dann auf Ebene des Staates ausgetragen, z.B. in den Parlamenten, Ministerien und Kabinetten. Hier werden dann politische Kompromisse geschlossen, um das gesamtwirtschaftliche Interesse zu sichern und voranzutreiben. Dementsprechend wird der Staat auch als „ideeller Gesamtkapitalist“ bezeichnet.

Das gute und schöne Leben sieht anders aus

Aus dem gesellschaftlichen (Produktions-)Verhältnis zwischen Unternehmern, dem Besitzbürgertum einerseits und der viel größeren Gruppe der Lohnabhängigen und Erwerbslosen andererseits ergibt sich die Spaltung der Gesellschaft in Klassen. Die zwei Klassen stehen sich antagonistisch, also mit grundsätzlich gegensätzlichen Interessen gegenüber. Dieser Klassengegensatz ist nichts neues, in der kapitalistischen Gesellschaft hat er sich aber sowohl vereinfacht als auch verschärft.

Grundsätzlich stellt der Klassengegensatz für die kapitalistische Gesellschaftsform eine ständige Bedrohung dar. Schließlich beruht der Kapitalismus auf der Bereicherung einer verhältnismäßig kleinen Gruppe, der Kapitalistenklasse mittels der Ausbeutung und Unterdrückung eines überwiegenden Teils der Bevölkerung: ArbeiterInnen, Erwerbslose, Kinder und Jugendliche, Menschen mit Behinderung, SchülerInnen, Studierende.

Diese gesellschaftliche Situation besitzt an sich eine immense Sprengkraft. Viele von uns müssen 40 Stunden und mehr in der Woche arbeiten, wir kümmern uns unentgeltlich um Kinder und Angehörige oder wir werden von Arbeitsamt und Jobcenter schikaniert. Alles nur, damit wir uns und unsere Familie und Freunde einigermaßen über Wasser halten können.

Das gute und schöne Leben sieht anders aus. Durch die Corona-Pandemie hat sich die Situation noch um einiges verschärft. Während wir dazu herhalten, die Gesellschaft irgendwie am Laufen zu halten, werden die Reichen immer reicher. Auch wenn es der eine oder die andere im Alltag mal vergisst: diese Bereicherung beruht auf unserer Ausbeutung.

Denn jeder Euro Profit, der erwirtschaftet wird, wird letztlich erwirtschaftet durch unsere Arbeitskraft. Dieses gesellschaftliche Verhältnis steht unter einer gewaltigen Spannung, denn es beinhaltet grundsätzliche, gegensätzliche Interessen.

Eine weitere Funktion des modernen Staates ist es, diese Sprengkraft zu mildern und so die kapitalistische Gesellschaftsform abzusichern und zu stabilisieren. Hierzu benutzt der Staat zwei übergeordnete Mittel: Repression und Integration.

Repression und Integration

Repression meint die staatliche, gewaltsame Unterdrückung von Kritik, gesellschaftlichem Widerstand, oder auch die Niederschlagung revolutionärer Bewegungen, die sich für ein besseres Leben und eine befreite Gesellschaft einsetzen.

Sie richtet sich in erster Linie gegen die Interessen der Werktätigen, Ausgebeuteten und Unterdrückten und deren emanzipatorischer Selbstorganisation. So werden z.B. Gewerkschaften oder Parteien verboten und Streiks gewaltsam unterbunden, wenn sie dem Kapital zu sehr zu Leibe rücken.

Beispiele für die staatliche Unterdrückung von revolutionären Organisationen sind die Verbote der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). 1933 wurde sie bereits zum dritten Mal verboten. Im Vergleich zu heute war die Arbeiterbewegung in Deutschland vor 1933 äußerst kraftvoll und erreichte breite Massen. An deren Spitze stand die KPD: sie trat für die Interessen der ArbeiterInnen und für eine revolutionäre Überwindung der bürgerlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsform ein. Nachdem die Nazis die Reichstagswahlen 1933 gewannen, wurde die KPD verboten. Der Grund: die Kommunistische Partei war die bedeutendste antifaschistische Gegenmacht innerhalb Deutschlands. Für 12 Jahre setzte die KPD nun ihre Arbeit in der Illegalität fort und betätigte sich im Widerstand. KPD-Mitglieder wurden verfolgt, deportiert und ermordet. Nicht nur den Faschisten war die revolutionäre Partei ein Dorn im Auge. Auch Großunternehmer und bürgerliche Parteien sahen die Herrschafts- und Eigentumsverhältnisse durch die KPD bedroht.

Dies wurde der Partei erneut in der jungen Bundesrepublik zum Verhängnis. Nach dem Krieg gründete sich die KPD 1945 neu – als erste Partei, die von allen vier Besatzungsmächten anerkannt wurde. 1949 zog sie in den ersten Bundestag ein, die KPD erfreute sich großer Beliebtheit insbesondere in der werktätigen Bevölkerung. Schon sieben Jahre später wurde sie 1956 unter dem Druck der CDU-geführten Bundesregierung Konrad Adenauers verboten. Die Begründung des rechtskonservativ geleiteten Bundesverfassungsgerichts: Die Ziele der KPD, die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung und ihre kämpferische Haltung seien mit der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ unvereinbar.

Noch am Tag der Urteilsverkündung wurden Parteibüros gewaltsam von der Polizei geschlossen; Druckereien, finanzielle Mittel und Immobilien wurden beschlagnahmt, Zeitungen eingezogen und Mitglieder verhaftet. Organisationen wie die KPD, die sich für eine befreite Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung einsetzen, müssen mit der vollen Wucht der staatlichen Repression rechnen, wenn sie Staat und Kapital zu gefährlich werden. Im Gegensatz dazu ist z.B. die faschistische NPD seit ihrer Gründung 1964 nie von einem Verbot betroffen gewesen.

Staatliche Repression tritt auf in Form von direkter körperlicher und psychischer Gewalt oder deren Androhung: z.B. in Form von Polizeigewalt gegen Demonstrationen, die sich für eine bessere Gesellschaft einsetzen. Auch behördliche Verfolgung und Freiheitsentzug sind staatliche Mittel der Repression: Als Geld- oder Gefängnisstrafen treffen sie besonders politische Gegner oder Menschen, die vom System in die Kriminalität gedrängt werden.

Dass staatliche Repression in besonderem Maß politische Gegner von Staat und Kapital trifft, wird z.B. durch den Paragraphen 129 des Strafgesetzbuchs verdeutlicht. Zwar dient der Paragraph dem Gesetzestext nach der Verfolgung von Vereinigungen, deren Zweck kriminell ist. In der Praxis richtet er sich aber vor allem gegen die, die den bürgerlichen Staat und den Kapitalismus überwinden und eine neue Gesellschaft schaffen wollen: Linke.

Der Paragraph eröffnet dem Staat und seinen Strafverfolgungsbehörden weitreichende Möglichkeiten der Überwachung und schränkt die Grundrechte der Betroffenen ein. Ohne Tatnachweis werden Überwachungs- und Bespitzelungsmaßnahmen begründet, Verteidigerrechte und prozessuale Standards außer Kraft gesetzt und Betroffene in Untersuchungs- und Beugehaft gebracht. Der staatlichen Repression gegen fortschrittliche Organisationen sind mit dem Paragraphen fast keine Grenzen gesetzt.

Staatliche Repression kommt vor allem ins Spiel, wenn Kapitalinteressen, z.B. Eigentumsverhältnisse und somit die Klassenherrschaft gefährdet oder bedroht werden. Der Staat nimmt somit die Funktion ein, fortschrittliche Bestrebungen insbesondere der ArbeiterInnen niederzuschlagen und so deren Ausbeutung aufrecht zu erhalten.

Zu diesem Zweck unterhält der Staat einen gewaltigen Apparat bestehend aus Polizei, Staatsanwaltschaften, Justiz, Geheimdiensten und Militär. Auf Dauer ist der Einsatz staatlicher Repression zur Sicherung der Gesellschaftsordnung sehr aufwändig und kostspielig – nicht nur finanziell. Denn der übermäßige Gebrauch von Gewalt verschärft den Klassengegensatz nur um so mehr und provoziert so möglicher-weise soziale Unruhen bis hin zu Revolutionen. Um diese zu verhindern, bedient sich der Staat dem Mittel der Integration. Es dient in erster Linie der gesellschaftlichen Stabilität und somit der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Produktionsweise.

Wahlen – Schein von Integration und Mitbestimmung

Hauptmittel der politischen Integration sind Wahlen und Volksvertretungen in Parlamenten. Sie lassen den Eindruck entstehen, dass auch die Ausgebeuteten und Unterdrückten, allen voran die Werktätigen die Gesellschaft mitgestalten können. Durch die Stimmabgabe bei der Wahl wird uns suggeriert, etwas für die Gesellschaft getan zu haben; uns soll das Gefühl von Mitbestimmung und gesellschaftlicher Teilhabe vermittelt werden. Es wird versucht, uns weiszumachen, dass der Weg zu gesellschaftlicher Veränderung nur über Wahlen und die Parlamente zu bestreiten ist. So wird von wirklichen Perspektiven sozialen Fortschritts hin zu einer befreiten Gesellschaft abgelenkt.

#wahlboykott21

Mit fortschreitender Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise hat sich ein weiteres Mittel zur Integration der Massen in das ausbeuterische System durchgesetzt: Die Entschädigung und Bestechung der Ausgebeuteten durch den sogenannten „Wohlfahrtsstaat“: durch verbesserte Arbeitsbedingungen, höhere Bezahlungen und andere soziale Maßnahmen. Sie bewirken, dass es sich die eine oder der andere all zu bequem in diesem System macht und sich schließlich damit abfindet. Außerdem verhindern sie eine all zu große Verelendung der Werktätigen durch zu starke Überlastung. Damit sorgen soziale „Entschädigungen“ wie Arbeitszeitregelungen oder Mindestlohn für einen Erhalt der Arbeitskraft und stabilisieren so das kapitalistische Wirtschaftssystem.

Zwar wurden all diese „Verbesserungen“ hart, insbesondere von der ArbeiterInnenbewegung erkämpft, teilweise gegen die Interessen einzelner Kapitalisten(-gruppen). Nichtsdestotrotz hat die unheimliche Allianz von Staat und Kapital es immer wieder verhindert, dass die Interessen des Kapitals als Ganzes jemals grundlegend gefährdet wurden.

Letztlich bewirkten noch alle sozialen Verbesserungen im Rahmen der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung deren Stabilität. Mit den Mitteln von Zuckerbrot und Peitsche, Integration und Repression, gelang es immer wieder, Fortschritte im Kampf der Arbeiterbewegung niederzuschlagen oder zu vereinnahmen.

Die Zugeständnisse, die dem Staat in mühevollen Kämpfen auf der Straße und im Betrieb abgerungen werden konnten, sind nur ein schwacher Trost gegenüber dem Elend, das diese Gesellschaft hervorbringt.

Aus dem Kampf mit ihren Gegenkräften konnten Staat und Kapital letztlich immer wieder ihren eigenen Vorteil ziehen. Das Ergebnis war zu oft ein falscher sozialer Frieden, der gewaltvolle Erhalt von Kauf- und Arbeitskraft und die Festigung einer ausbeuterischen und räuberischen Gesellschaftsform. Der Wohlfahrtsstaat ist eines der effektivsten Instrumente zur Vorbeugung sozialer Unruhen und zur Stabilisierung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung.

Dabei steht nicht das Wohl von z.B. RentnerInnen und Erwerbslosen im Vordergrund. Vielmehr ist das Ziel des Wohlfahrtsstaats, mit sozialpolitischen Maßnahmen wie Renten und Arbeitslosenversicherungen einen sozialen Frieden zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutern herzustellen, obwohl deren Interessen eigentlich grundsätzlich gegensätzlich sind.

So wird versucht, revolutionären Bewegungen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Als ein Begründer des modernen Wohlfahrtsstaates gilt der nationalkonservative Reichskanzler Otto von Bismarck. Er bemühte sich mit seinen Sozialreformen darum, die aufstrebende Arbeiterbewegung zu entkräften. Letztere war an einer grundsätzlichen Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse interessiert. Die Entstehung des Sozialstaats hingegen ist nur im Zusammenhang mit einer Festigung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung, welche auf Ausbeutung und Unterdrückung beruht, zu verstehen.

Was tun?

Der moderne Staat wird von den Herrschenden oft als Garant von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit hochgelobt. Obwohl die soziale Realität anders aussieht, hat dieses bürgerliche Märchen einen wahren Kern: Die Freiheit der Person offenbart sich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit als Freiheit des kapitalistischen Wirtschaftens und der Freiheit der Märkte.

Die Idee der Gleichheit verwirklicht sich als Gleichheit der Warenbesitzer im Warentausch und im Vertrag. Die Idee der Brüderlichkeit jedoch entpuppt sich als Kampf aller gegen alle im wirtschaftlichen Wettbewerb und der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt.

Die Profiteure des Systems wollen uns den Staat als höchste Form der gesellschaftlichen Organisation verkaufen. Doch bei genauerer Betrachtung lüftet sich der Schleier: Der bürgerliche Staat ist keine neutrale Instanz, die dem Wohl aller dient. Vielmehr ist er grundlegender Bestandteil und Bedingung der kapitalistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsform.

Staat und Kapital sind so untrennbar miteinander verknüpft, dass ein Fortbestehen des einen ohne das andere überhaupt nicht denkbar wäre. Wenn sich aber unsere Gesellschaft nicht nach den Regeln des Warentausches richten soll, wird es nicht ausreichen, die Verantwortung an der Wahlurne an Politkarrieristen ab-zugeben.

Wenn wir unsere Lebenszeit nicht dem Wirtschaftswachstum und der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen opfern wollen, dürfen wir uns nicht auf den Staat, die Parlamente oder die bürgerlichen Parteien verlassen. Wenn wir eine Gesellschaft wollen, die unseren Bedürfnissen und Möglichkeiten gerecht wird, müssen wir aus der politischen Bequemlichkeit treten, selbst aktiv werden und uns gemeinsam und unabhängig organisieren.

Kein Kreuz auf dem Wahlzettel, kein Sitz im Parlament und keine Reform wird im Stande sein, das Bündnis von Staat und Kapital zu zerschlagen. Wir, die große Masse von ArbeiterInnen, Erwerbslosen, Jugendlichen und allen anderen Ausgebeuteten und Unterdrückten müssen uns unserer Kräfte bewusst werden, der Ausbeutung von Mensch und Natur ein Ende bereiten und den Weg frei machen für eine neue, bessere Gesellschaft.

Das können wir nur, wenn wir zusammen kämpfen, unabhängig von staatlicher Finanzierung und bürgerlichem Staatsverständnis, ohne dass wir uns vereinnahmen oder mit dem „allgemeinen Wahlrecht“ über den Klassencharakter der Parlamente hinwegtäuschen lassen. Lasst uns zusammen kämpfen für eine befreite Gesellschaft, in der wir unsere Geschichte selbstbewusst bestimmen und gemeinsam darüber entscheiden, wie wir produzieren, arbeiten und leben.

Permanent link to this article: http://zusammenkaempfen.bplaced.net/2021/09/staat-und-kaptital-text-zum-wahlboykott/