Interview des venezolanischen Nachrichtenportals Aporrea mit Cristina Pantzou, Journalistin bei der griechischen Zeitung Eleftherotypia, vom 26. Februar 2012
Cristina Pantzou ist Journalistin bei der aussenpolitischen Redaktion von Eleftherotypia („Pressefreiheit“). Diese progressive Zeitung war vor Beginn der Krise eine der am meisten gelesenen Tageszeitungen in Griechenland. Ihre Arbeiter, Journalisten, Techniker und Angestellten sind seit Monaten im Streik, weil ihre Löhne seit August 2011 nicht bezahlt wurden. Sie entschlossen sich jetzt, die Zeitung in Selbstverwaltung herauszubringen. Aus juristischen Gründen heisst sie „Die Arbeiter“. Am 15. Februar erschien die erste, am 25. Februar die zweite Ausgabe.
Wie erlebst du die Umwälzungen, die dein Land erschüttern?
Ich lebe in einem wunderbaren Land mit wunderbaren, solidarischen, kämpferischen Menschen, denen eine verheerende Realität aufgezwungen wurde. Und ich kann nur Zorn empfinden gegen dieses politische System, das sich ohne Hemmungen und Skrupel den Bedingungen der Troika (IWF, EU, Europäische Zentralbank) unterwirft, unter dem falschen Vorzeichen des „Nein zum Bankrott“ hat es das griechische Volk an den Rand gebracht.
Wir sind im fünften Jahr in Folge in einer tiefen Rezession, die Arbeitslosigkeit hat 20 % erreicht, bei den Jugendlichen unter 25 Jahren sind es fast 50 %, die Löhne und Pensionen werden alle paar Monate gekürzt, während es Dutzende neue Steuern gibt. Tausende Arbeiter bekommen seit Monaten ihre Löhne nicht, die Kollektivverträge und der Mindestlohn wurden abgeschafft, ebenso die Mehrzahl der Rechte der Arbeiter. Drei von zehn Bürgern leben unter der Armutsgrenze, 48 % sind arm (können ihre Grundbedürfnisse nicht voll befriedigen) und 59 % haben nicht die Geldmittel, um einer Notsituation gewachsen zu sein, zum Beispiel einem schweren Gesundheitsproblem.
Mehr als 65.000 Kleinunternehmen wurden geschlossen. Die Selbstmorde haben sich verdreifacht und in den Strassen der grossen Städte sehen wir die neuen Obdachlosen umherziehen, mit einer Decke um die Schultern und einer Tasche mit dem Wenigen, das ihnen von ihrem früheren Leben geblieben ist, Leute wie wir, die ohne Arbeit und ohne Wohnung sind. Der wirtschaftliche und soziale Bankrott ist eine Realität für das Volk.
Aber das schlimmste ist nicht dieser wirtschaftliche Bankrott, sondern der demokratische. Die Parteien, die uns in den letzten zwei Jahren versprochen haben uns zu retten, haben uns in ein tägliches Elend gedrückt, haben akzeptiert, die nationale Souveränität zu begrenzen, haben jedes Gefühl für Demokratie verletzt, indem sie die Wahlen negiert und eine Regierung der angeblichen nationalen Einheit gebildet haben, unter einem Premierminister, der Bankier ist und nicht gewählt wurde, und die Regierung unterschrieb ein Abkommen mit der Troika, das neue Sparmaßnahmen auferlegt. Bedingung dieser neuen Anleihe von 130 Milliarden Euro ist, dass alle Staatseinkünfte zuerst an diesen Schuldendienst gehen. Und jetzt wollen sie, dass wir unsere Verfassung ändern und einen Artikel einfügen, der bestimmt, dass die Zahlung der Schulden Priorität vor anderen nationalen Bedürfnissen hat. Und all das unter der Kontrolle ausländischer Kommissare. Sie sagen, dass so die griechischen Schulden tragbar seien und im Jahr 2020 120 % des Bruttosozialproduktes erreichen werden – genau wie es 2010 war, bevor uns die tödlichen Austeritätspakete und das Niederreißen der Arbeitsverhältnisse aufgezwungen wurden!
Aber selbst die Weltbank-Beamten erkennen, dass dieses Abkommen nicht machbar ist. Wenn es ihnen nützlich scheint, werden sie offiziell den Bankrott verkünden, während wir einer neuen Barbarei unterworfen sein würden: unsere Zukunft wird aufs Spiel gesetzt und die Situation wäre für die jungen Generationen noch sehr viel schwieriger.
Durch Alternativmedien haben wir von der Situation der Arbeiter der Tageszeitung Eleftherotypia erfahren, wo du arbeitest. Wir möchten gerne, dass du unseren Lesern diese Situation erläuterst.
Wir gehören zu den Zehntausenden von Arbeitern, die Gefangene der Unternehmen sind, die weiter funktionieren ohne Löhne zu bezahlen oder nur mit großer Verzögerung. Wir sind seit August 2011 nicht bezahlt worden und erlebten eine Situation des Absurden Theaters, wie „Warten auf Godot“: Ein Darlehen von Tag zu Tag, einige Versprechungen, die Woche um Woche gemacht wurden, ein „Unternehmenssanierungsplan“, der uns Monat für Monat vorgelegt werden sollte und sämtliche Probleme lösen würde, als wäre er ein Zauberstab. 88O Familien (jetzt sind wir noch 750, die geblieben sind), Journalisten, Verwaltungs- und Technikpersonal, Arbeiter in der Druckerei blieben monatelang in der Vorhölle ohne zu reagieren. Manche, weil sie darauf bestanden, dass es in dieser Krisensituation und der drohenden Zahlungsunfähigkeit des Landes nicht leicht sei, ein Darlehen zu bekommen und dass wir deshalb warten müssten. Andere, weil sie der Meinung waren, dass hinter der Haltung der Banken politischer Druck steht, um Schluss zu machen mit einer progressiven Tageszeitung, die von Anfang der Krise an die Regierungspolitiken angeprangert und sich bemüht hat, dem „Medien-Terrorismus“ des Konsens mit den neokolonialen Abkommen mit der Troika entgegenzuwirken, und die darauf bestand, dass wir, die Arbeiter selbst, diese einzige und radikale Stimme nicht „zum Schweigen bringen“ können durch einen Streik. Aber die Wirklichkeit hat die Dynamik verändert.
Im Dezember fielen die Masken: als wir begannen, die Gerichtsurteile durchzusetzen, die wir gewonnen hatten um die Löhne zu bekommen, die sie uns schulden, entschied das Unternehmen, den Artikel 99 des Bankrottgesetzes in Anspruch zu nehmen, der Schutz vor Gläubigern bietet. Tatsächlich wollten sie Schutz vor der Zahlung unserer Gehälter, da sie bereits ihre ganzen anderen Schulden bezahlt haben. Am Tag danach entschieden wir uns für einen unbefristeten Streik, eine Entscheidung, die seitdem in allen unseren Vollversammlungen erneuert wurde. Wir sind seit dem 22. Dezember 2011 im Streik. Und weil wir uns einig sind, dass unsere Stimme gehört werden muss, dass unsere Texte veröffentlicht werden sollen und damit die Öffentlichkeit versteht, dass es nicht wir Arbeiter sind, die nicht wollen, dass die Tageszeitung erscheint, haben wir entschieden, das Abenteuer in Angriff zu nehmen, eine Zeitung der Arbeiter von Eleftherotypia herauszubringen.
Es ist eine Zeitung der Journalisten, bei der sich alle, die wollen, unter der Leitung eines gewählten Redaktionskomitees beteiligen, und wenn es Gewinne geben sollte, werden sie gerecht unter allen Arbeitern verteilt, nicht nur unter den Journalisten. Trotz der schweren Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, erschien die erste Ausgabe am 15. Februar – an dem Tag, an dem das Gericht den Antrag des Unternehmens auf Anwendung des Artikels 99 untersuchte – und es war ein Erfolg, es war die am meisten gekaufte Zeitung im ganzen Land. Und die zweite Ausgabe erschien gestern, am 25. Februar und wir hoffen, dass sie das gleiche Glück hat. Ausserdem haben wir einige grosse Siege errungen, die vielleicht neue Wege für die Arbeiter in vergleichbaren Bedingungen eröffnen.
Am 15. Februar hat das Gericht entschieden, das Urteil bis zum 7.März auszusetzen, hat uns aber das Recht zugestanden, die richterlichen Anordnungen bezüglich unserer Gehälter bis zu diesem Termin durchzusetzen, etwas Unerhörtes. Und am vergangenen Freitag hat ein anderes Gericht die Klage des Unternehmens zur Verhinderung unserer zweiten Ausgabe abgelehnt. Selbst die grössten Skeptiker unter uns haben verstanden, dass mit Sicherheit derjenige Kampf ein verlorener ist, der nicht geführt wird.
Es gibt einen gemeinsamen Punkt unter uns allen, und der ist: wir wollen, dass Eleftherotypia weiter herauskommt. Aber wir wollen in Würde arbeiten. Wir wollen beweisen, dass die Seele der Zeitung, das, was sie einzigartig und radikal macht, ihre eigenen Arbeiter sind und dass es nicht möglich ist, die Abkommen zu kritisieren, die die Troika Griechenland aufdrückt und zugleich zu akzeptieren, dass das Zeitungsunternehmen das gleiche mit seinen Arbeitern macht.
Wie schätzt du das Handeln der griechischen Linken ein? Tauchen neue Formen der sozialen und politischen Organisation auf?
Die griechische Linke durchlebt eine ihrer kritischsten und zugleich ermutigstenden Etappen. Die letzten Umfragen ergeben für die Gesamtheit der linken Kräfte (einschliesslich einer neuen Mitte-Links Partei, die aus manchen Umfragen als zweitstärkste Wahlpartei hervorgeht, was noch zu beweisen ist) zwischen 30 und 40%, während die Vertreter des Zweiparteiensystems, Pasok und Neue Demokratie, die heute die Regierung bilden, zusammen nicht über 35-39% kommen. Es ist ein historischer Moment, den die Linke nicht vorbei gehen lassen darf als hätte sich nichts verändert. Es ist eine hoffnungsvolle Perspektive für das Volk, der das politische Establishment offensichtlich den Kampf angesagt hat, um sie zu verhindern. Wir haben schon Erklärungen gehört, wie: „Wir werden den Kommunisten nicht erlauben, dieses Land zu regieren“, die uns an die unheilvolle Epoche der Diktatur erinnern. Es wäre naiv zu glauben, dass es keinen schmutzigen Krieg gegen die Linke geben wird und keine Kampagnen, um Angst zu verbreiten, zusammen mit Versprechungen auf „zukünftigen Wohlstand“. Möglicherweise ist die Prozentzahl aller linken Parteien nicht so gross, aber sicher wird sie in der Lage sein, das verheerende Panorama unseres Parlaments zu ändern, das nur Abkommen und Gesetzte verabschiedet, die von der Troika vorbereitet wurden.
Die griechische Linke ist im Aufschwung, weil sie es verstanden hat, viel von den Bewegungen zu lernen, die im Land in diesen zwei Jahren entstanden sind, oft spontan, aber immer massenhaft und mit viel Phantasie. Und sie hat es verstanden, sich an ihnen zu beteiligen, ohne die Absicht, sich aufzuzwingen, sie hat von unten eine neue Rolle finden können und gemeinsam mit den Leuten Antworten gegeben und nicht den Leuten Direktiven erteilt. Zum Beispiel ging die Bewegung der „Empörten“ von den Strassen in die Stadtviertel über, um die Volksversammlungen zu verstärken, wo die Linke sich ganz entschieden beteiligt hat, um Lösungen zu erreichen: die Anwohner organisieren Aktionen für die Arbeitslosen, die gefährdeten Familien, die neuen Armen, die aus einer Mittelklasse kommen, die von der Auslöschung bedroht ist, sie organisieren Solidaritätskomitees, besetzen Räume und verlassene Gebäude zum Gebrauch für die Bewohner, sie bauen kulturelle Zentren und Volksküchen auf, während die Lehrergewerkschaft Unterricht für die Kinder der bedürftigsten Familien anbietet usw. Oder sie ist präsent in den Bürgergruppen, die sich selbst organisieren und mit Landwirtschaftskooperativen den Verkauf ihrer Produkte zu niedrigen Preisen ohne Zwischenhändler und Spekulanten realisieren.
Wir wissen, dass Solidarität wichtig ist, wie könnten unsere Leser in diesem Moment helfen?
Die Solidarität ist ein Imperativ für das griechische Volk und kann sich in sehr konkreten Initiativen ausdrücken, vor allem auch durch die lateinamerikanischen Völker, die die IWF-Auflagen mit Blut und Elend bezahlt haben – so wie wir heute bezahlen – und von denen viele es erreicht haben, sich vom Neoliberalismus zu befreien und neue Wege der politischen und ökonomischen Emanzipation zu beginnen. Der politischen Kampagne entgegenwirken, die unser Volk beleidigt, indem es als „faul“, „individualistisch“, „korrupt“ bezeichnet wird, als „Leute, die wie Parasiten auf Kosten Anderer leben“. Die Reihen dieser internationalen Bewegung zur Unterstützung unserer legitimen und gerechten Forderungen vergrössern, die beginnt zu entstehen und Informationskampagnen gegen diese vorsätzliche Desinformation organisiert. Daran erinnern, dass es Deutschland ist, das uns etwas schuldet, und zum Beispiel fordern, dass Deutschland das „Darlehen“ an Griechenland zurückgibt, das unser Land während der Besatzung im zweiten Weltkrieg an Deutschland geben musste und das in aktuellem Geld gerechnet etwa 163 Milliarden Dollar entspricht; und die Kriegsentschädigungen, die bisher von Deutschland an Griechenland nicht bezahlt wurden – unter anderem für den Mord an Zivilisten in mehr als 90 Dörfern oder das Niederbrennen von mehr als 1700 Dörfern durch die Nazis – entsprechen etwa 332 Milliarden Dollar. In jedem internationalen Forum unsere Sache vertreten gegen diese Abkommen, die das Volk zu lebenslänglichem Elend ohne Rechte verurteilen, und das Land dazu, sich in eine institutionalisierte Neo-Kolonie der Europäischen Union zu verwandeln.
veröffentlicht auf Aporrea am 27. Februar 2012