Demokratischen Sicherheit, von Alvaro Uribe: 1253 Indios ermordet und 54.000 vertrieben
Von: Simon Bruno/Alai-amlatina / Für Stimme des Neuen Kolumbien
Mobilisierung der Indios im ganzen Lande:Das auf einer Popularitäts-Wasserblase erbaute Luftschloss des Präsidenten Uribe scheint zu beginnen zu bröckeln. Niemals in den sechs Jahren, die der Staatschef das Präsidentenamt innehat, wurden so viele Proteste registriert, weder hinsichtlich ihrer Dauer noch ihrer Intensität oder ihrer Teilnehmerzahl. Die auf einer kriegerischen Rhetorik aufgebaute Figur des Präsidenten hat die sozialen Themen hinter dem „Opfer für den Sieg gegen die Terroristen“ verborgen.
Jetzt aber explodieren die Probleme des wirklichen Lebens der Kolumbianer, verstärkt durch eine ökonomische Krise, die das Land schwer erschüttert.
Seit dem 12. Oktober, dem so -schlecht – genannten Tag der Rasse, wie die westliche Rhetorik den Tag nennt, an dem Amerika entdeckt wurde, wobei vergessen wird, dass es bereits bewohnt war, hat sich der indigene Protest dem verschiedener bereits mobilisierter sozialer Schichten angeschlossen. Die Mitarbeiter des Justizwesens haben jetzt einen 43-tägigen bislang beispiellosen Streik beendet.
Die Zuckerrohrschnitter der Region Valle del Cauca halten seit mehr als einem Monat die Fabriken besetzt und fordern Anerkennung und Direkteinstellung mit gerechtem Lohn. Die Transportarbeiter haben vor wenigen Tagen einen langen Arbeitskampf beendet. Die Studentenbewegung bereitet Aktionen für den 23. Oktober vor und die staatliche Registratur beginnt heute einen unbefristeten Streik.
Am 12. Oktober haben die Aktionswochen „Minga“ zum 516. Jahrestag des Widerstandes begonnen. Diese Mobilisierung erfasst das ganze Land und ist ein Katalysator für den Protest, der nationale und internationale moralische und materielle Unterstützung erhält. Der Minga haben sich die Einheitsgewerkschaftszentrale CUT, die größte des Landes, die Gewerkschaft der Mitarbeiter der Justiz (Asonal Judicial), die Zuckerrohrschnitter, die Mitarbeiter des Erziehungswesens, Teile der Bauernschaft und viele andere angeschlossen. Einmal mehr zeigen die kolumbianischen indigenen Völker, 102 an der Zahl, wenn man die nicht offiziell anerkannten mitzählt, dass sie das Bewusstsein und die moralischen Kraft eines Landes sind, das – von der Präsidenten-Rhetorik betrunken gemacht – schon vergessen hat, wie man für seine Rechte kämpft. Dieses Ergebnis ist nicht zufällig: die kolumbianischen Indigenen, vor allem die Nasa, knüpfen seit einigen Jahren Verbindungen zu anderen sozialen Schichten mit dem Ziel, minimale gemeinsame Punkte zu finden, auf denen man eine Reihe gemeinsamer Aktionen aufbauen kann um so die historische Trennung der gesellschaftlichen Protagonisten Kolumbiens zu überwinden.
Die Ursachen des Kampfes
Gegenwärtig mobilisieren sich Tausende Indigene in verschiedenen Departamentos des Landes (Guajira, Córdoba, Sucre, Atlántico, Chocó, Norte de Santander, Risaralda, Caldas, Quindío, Valle del Cauca, Cauca, Tolima, Hula, Casanare, Meta und Boyacá) und fordern einen Dialog mit der Regierung zu fünf grundlegenden Punkten, die – wie sie sagen – viele weitere Punkte einschließen.(1)
Einer der Gründe für diese Mobilisierung ist die Zahl von Morden an Indigenen, die in den letzten Wochen stark zugenommen hat. Laut der Nationalen Indigenen Organisation Kolumbiens ONIC „wurden in den letzten sechs Jahren im ganzen Lande 1253 Indigene ermordet…, alle 53 Stunden wird ein Indigener ermordet … und mindestens 54.000 sind von ihren angestammten Grund und Boden vertrieben worden“. Allein in den letzten 14 Tagen wurden 19 Indigene ermordet.
Ein weiterer Grund ist die Nichterfüllung der mit dem Landgemeinden abgeschlossenen Vereinbarungen durch den Staat. Ein repräsentatives Beispiel dafür ist das des Nasa-Volkes. Am 21. Dezember 1991 wurden 20 Indigene, darunter Frauen und Kinder in Komplizenschaft mit derPolizei massakriert, was als das Massaker von Nilo bekannt wurde. Der Staat war für dieses Massaker verantwortlich, bekannte sich dazu auf internationaler Ebene und verpflichtete sich, die Empfehlungen der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte hinsichtlich der Wiedergutmachung durch individuelle und kollektive Entschädigung zu erfüllen. Der damalige Präsident Ernesto Samper bat öffentlich im Namen des Staates die Opfer dieses Massakers, deren Familienangehörige und das Volk der Nasa um Verzeihung. Bis heute sind diese Vereinbarungen nicht erfüllt worden. Mehr noch: die gegenwärtige Regierung verpflichtete sich am 13. September 2005 mit einem neuen Vertrag, den noch nicht erfüllten Verpflichtungen in maximal zwei Jahren nachzukommen. Bis heute ist die Rückgabe der 15.000 Hektar Land an das Nasa-Volk nicht geschehen.
Die Indigenen kämpfen zugleich gegen eine Reihe von Gesetzen wie das Agrarstatut, den Minenkodex, Wassernutzungspläne und das Waldgesetz – alles Gesetze, die von der Uribe-Regierung vorangetrieben wurden und die laut der ONIC „dazu dienen, die ökonomischen Interessen zu begünstigen und zum Landraub beitragen“. Diese Gesetze stehen im Widerspruch zu Artikel 120 der Verfassung von 1991, wo es heißt: „Die Nutzung der natürlichen Ressourcen durch den Staat in den indigenen Siedlungen erfolgt, ohne deren kulturelle, soziale und wirtschaftliche Integrität zu verletzen und nach vorheriger Information und Konsultation der betreffenden indigenen Gemeinschaften. Die Vorteile dieser Nutzung durch die indigenen Siedlungsgebiete sind der Verfassung und dem Gesetz unterworfen.
“In den letzten 6 Jahren mussten laut ONIC 53.885 Indigene ihr Land verlassen und heute sind 18 kolumbianische Dörfer in ihrer Existenz bedroht, denn sie haben gegenwärtig weniger las 200 Einwohner, 10 von ihnen weniger als 100. Wie es dort heißt: „Ein Indigener ohne Land ist ein toter Indigener“.
Das Recht auf Land und das Recht auf Leben sind in der Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker enthalten, die im September 2007 angenommen und von allen lateinamerikanischen Ländern mit Ausnahme Kolumbiens unterzeichnet worden ist. Heute kämpfen die Indigenen auch für die Annahme durch Kolumbien.Dies sind die Gründe für die große Massenmobiliserung der Indigenen, die ein direktes Treffen mit Präsident Uribe fordern.
Die Kommuniqués der ONIC bringen folgende Informationen über die Aktionen: In Tolima marschierten etwa 2000 Indigene der Pijaos und der Nasa friedlich von El Guamo nach El Espinal, ebenso 400 Indigene Embera Chamí in Armenia, Hauptstadt von Quindío. Desweiteren gab es eine Konzentration im Landkreis Riosucio, und in Chocó halten Indigene weiterhin friedlich das Gebäude der Volksverteidigung (Defensoría del Pueblo) in der Hauptstadt Quibdó besetzt.
Innerhalb dieses Gebäudes befinden sich mehr als 300 Indigene der Emberá Dóvida und der Katios, wo sie in gemeinsamen Kommissionen mit regionalen Ämtern Themen wie Gesundheit, Bildung und Ernährungssicherheit beraten. Von außen unterstützt eine ebenso große Anzahl von Indigenen die friedliche Besetzung des Gebäudes.
Im Valle del Cauca halten sich auf der Straße, die Palmira mit Popayán, la Florida und Pradera verbindet, mehr als 1000 Indigene Embera Chami, Eperaras Siapidaras und Wannan auf. In Huila wurden 9 Lkw beim Verlassen einer Wohnsiedlung von Beamten festgehalten und die mehr als 500 Indigenen durchsucht: um sie an der Weiterfahrt zu hindern.
In Guajira mobilisieren sich trotz des Winters und der schweren Unwetter in vielen ihrer Gehöfte in Manauare sowie in der Gegend von Riohacha die Wayúu-Indigenen auf der Sombrero-Route in Richtung auf die Hauptstadt von Guajira. Die Demonstranten durchziehen das Territorium mit Gesang, Tanz, Zeremonien und Predigten; sie werden von Wiwa-Indigenen, indigenen Studenten und anderen Teilen der Bevölkerung empfangen. Marschziel ist die Universität von Guajira.
In Córdoba versammeln sich Tausende Indigene der Zenú und Emberas Katios aus den Hochebenen von Alto Sinú und Alto San Jorge in dieser Minga für die Menschenwürde und die Rechte der indigenen Völker. Insgesamt wird mit 40.000 Indigenen gerechnet, die auf die Straße und auf die zentralen Plätze gehen, um sich die „Nationale Minga für den Widerstand der Indigenen“ zu begehen.
La María
Die schwersten Zusammenstöße gab es in La María-Piendamó (Cauca), wo 20.000 Indigene der ethnischen Gruppen Guambiana, Nasa,Yanacona, Totoró, Coconuco und Eperara-Siapirara die Panamericana-Autobahn zwischen Cali und Popayán besetzten, um die Nation auf sich aufmerksam zu machen.
Der Staat schickte das Mobile Geschwader ESMAD, das verkündete, dass man in 10 Minuten die Autobahn räumen werde. Aber der Widerstand der Indigenen hielt sich mehr als 24 Stunden und bereits zwei Tage später schien die Autobahn erneut besetzt zu werden.
In La María kam es zu einer extrem gewaltsamen Begegnung bei der es unter den Indigenen mehr als 70 Verletzte und zwei Tote gab; einer der beiden ist Ramos Valencia aus Tacueyó, der von einer Kugel getroffen wurde, die seinen Kopf von
einer Seite zur anderen durchschlug. Was in diesem Wohngebiet geschah, ist außerordentlich schwerwiegend. Die Polizei, die der Verantwortung des Präsidenten Alvaro Uribe untersteht, der Gouverneur von Cauca, Guillermo González Mosquera und der Kommandeur des ESMAD, Oberst Jorge Cartagena, haben nicht konventionelle Waffen gegen die indigene Bevölkerung eingesetzt, die sich lediglich mit Holzlatten und Steinen verteidigte. Die Polizeikräfte haben außer Gas, Macheten und Knüppeln auch Munition mit doppelter Ummantelung eingesetzt, die eine Mischung von Schwarzpulver, Metallsplittern, Nägeln und Glasscherben enthält und beim Explotieren Splitter freisetzt. Einige dieser nicht konventionellen Granaten, die nicht explotiert sind, wurden ausländischen Delegierten übergeben, die sich seit kurzem in María Piendamó befinden.
Die internationale Gemeinschaft hat von der Schwere dieser Fakten Kenntnis genommen und begleitet die Mobilisierungen. Es sind Mitarbeiter der Botschaften von Kanada, Schweden, der Schweiz, der USA und Spaniens sowie Vertreter der Vereinten Nationen, der Europäischen Union sowie von ACNUR, OCHA und UNICEF gekommen.Die Besucher haben die Sicherheitskräfte aufgefordert, nicht in die Siedlungsgebiete von La María einzudringen, denn laut nationaler Verfassung sind die indigenen Gremien die Staatsmacht in ihren Wohngebieten und diese dürfen nicht ohne deren vorherige Zustimmung durchsucht werden. Die Polizei drang jedoch nach Räumung der Autobahn in das Siedlungsgebiet ein und zündete mehrere Häuser an. Zusätzlich zu diesem Überfall mit Schusswaffen wurden die indigenen Einwohner Opfer einer schamlosen Offensive der Medien.
Medienoffensive
Mehrere Massenmedien haben weiter nichts als die Regierungsquellen zitiert ohne sich die Mühe zu machen, die Nachrichten zu verifizieren und beschuldigen nun die Indigenen Feuerwaffen gebraucht zu haben und von der FARC-Guerilla infiltriert zu sein.
Aber gegen diese Lügen sprechen die Fakten, die Toten und die mit Fotos dokumentierten verwundeten Indigenen. Der Prozess der Besetzung der Autobahn war eine Entscheidung, die von unten gekommen ist: die Einwohner haben in Versammlungen ihren Stadträten die eingeleiteten Maßnahmen vorgeschlagen, diese haben sich getroffen, haben entschieden und in Vollversammlungen ihre Entscheidung mitgeteilt. Es gibt keine Guerilla, sondern es gibt die Beschlüsse eines sehr bewussten Volkes, das seine Entscheidungen gemeinsam trifft.
Die Kriminalisierung des Protestes ist in Kolumbien eine gängige Praxis, wo die FARC als Entschuldigung herhalten müssen um die sozialen Bewegungen niederzuschlagen. Dem Präsidenten zufolge sind sie alle Guerilleros: die Studenten, die Zuckerrohrschnitter, die Richter, die Indigenen, die Lehrer, die Transportunternehmer und die Bauern. Wenn das so sein sollte, wäre seine Politik der demokratischen Sicherheit ein wirklicher Fehlschlag, denn dann wäre das ganze Land von der Guerilla infiltriert.
Dieselben, die die Bauern beschuldigen Guerilleros zu sein, sind diejenigen die wegen paramilitärischen Verbrechen vor Gericht stehen, aber dieses Mal zu Recht, wie es die 60 Parlamentarier beweisen, die in den Skandal der „Parapolitik“ verwickelt sind, oder der Ex-Gouverneur von Cauca, Juan José Chaux Mosquera, der die Nasa-Indigenen derart attackiert hat. Chaux wurde nach seiner Tätigkeit als Gouverneur von Präsident Uribe zum Botschafter in der Dominikanischen Republik ernannt, ein Posten, von dem er wegen erwiesener Verbindungen zu den Paramilitärs zurücktreten musste.
Während wir diesen Bericht abschließend bearbeiten, kommen neue Nachrichten von einer Besetzung der Autobahn in La María und von weiteren Angriffen mit Feuerwaffen von Seiten der Polizei und der Armee.
Die Repression dieser Tage geschieht im Rahmen der größten Protestbewegung gegen die Uribe-Regierung. Für den heutigen Tag wird in der Hauptstadt Bogotá ein großer Marsch zur Unterstützung der indigenen Völker erwartet.
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-Simone Bruno ist italienischer Journalist –
(1) Die fünf Punkte können nachgelesen werden in:
http://www.nasaacin.org/noticias.htm?x=8925
(2) Letzte Radioberichte bei: http://www.nasaacin.org/audios/octubre08/
17mingareportepescador9am17oct.mp3
zugefügt am: 25 Oct 2008