Der Krieg hat auch in Kolumbien zwei Seiten

Von: Andi Nopilas,Unsere Zeit / Für Stimme des Neuen Kolumbien

hat der kolumbianische Staat gemacht und verletzt die Rechte, die er ihnen angeblich zugestehtNorberto ist 28 Jahre alt. Er will ein neues Leben beginnen. Oder besser: er muss es. Denn nach eineinhalb Jahren Knast in Kolumbien bleibt ihm kaum etwas anderes übrig.Zumindest wenn die Anklage auf Terrorismus, Zusammenrottung zum Zweck der Erpressung und Rebellion lautete.Denn dann ist es den politischen Gegnern eines solcher Taten Verdächtigen egal, ob die Klage letztlich in sich zusammengebrochen war, weil nichts davon stimmte:
die weitere Verfolgung übernimmt ab dann der illegale Arm von Staat und Militär, der Paramilitarismus. Ab da geht es nicht mehr um Freiheit oder Gefängnis, sondern um Leben oder Tod. Und daher heißt Norberto auch nur für diese Lektüre Norberto.

Íngrid Betancourt dagegen macht unter gleichem Namen weiter. Wer auf der anderen Seite dieses Krieges der Regierung gegen Guerillas oder stellvertretend gegen die gesellschaftlichen Bewegungen, linken Parteien und Gewerkschaften in Gefangenschaft gerät, fällt in die Hände des Nationalen Befreiungsheeres (Ejército de la Liberación Nacional – ELN) oder der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC). So auch Íngrid Betancourt und derzeit noch knapp 30 Politiker/innen und geschätzte 700 Polizisten und Soldaten, im Falle der FARC. Niemand wird sagen, dass es akzeptabel sei, dass Menschen im Urwald teils viele Jahre und oft angekettet verbringen – wie Betancourt, die ehemalige Präsidentschaftskandidatin, die Ende Juni nach über sechs Jahren freikam.

Aber Hinschauen lohnt sich: Bewacher staatlicher Gefangener gehen am Abend nach Haus und fürchten nicht, militärisch angegriffen zu werden, wie es die Guerilleros im Urwald ständig annehmen müssen. Denn die Guerilleros leben unter ähnlich prekären Bedingungen wie ihre Gefangenen, was klimatische Bedingungen angeht oder auch den Hunger, wenn wochenlange Belagerung durch das Militär herrscht. Auf der anderen Seite bekommen die Gefangenen, die der Staat macht, keine mediale Aufmerksamkeit, weshalb eine unmenschliche Behandlung an ihnen kaum je publik wird. Zwar können sie im Gegensatz zu den Gefangenen der Guerilla Besuch empfangen, aber ihre Haft ist nicht angenehmer und meist länger. 2006 wurde das Strafmaß für Rebellion von sechs bis neun auf neun bis zwölf Jahre erhöht. Sollten sie dann freikommen, werden die Häftlinge kaum damit rechnen können, wie Íngrid Betancourt in Frankreich leben zu können, weshalb sie – selbst einer wie Norberto, der gar kein Guerillero ist – eine neue Identität anstreben sollten, sofern das geht.

In der Tat ist aber auch ein Vorteil auf ihrer Seite: sie müssen während ihrer Haft nicht mit einer Befreiungsaktion rechnen, deren in Kauf genommenes Risiko ihre Tötung ist, wie es die Menschen im Urwald aufgrund Uribes Militärstrategie fürchten müssen.

Wer nun argumentiert, die Guerilleros hätten ja gewusst, auf was sie sich einlassen, der hat zwar halbwegs Recht, aber dasselbe (und auch nur halbwegs) gilt für die Soldaten und Polizisten auch. Und wer sagt, die Politikerinnen und Politiker, die entführt wurden, seien aber nicht Teil des direkten Kampfgeschehens, hat noch einmal zur Hälfte Recht; das aber gilt auch für die Tausende (und eben nicht Dutzende), die im Knast sitzen ohne je eine Waffe in der Hand gehabt zu haben. Denn die meisten Opfer der Strafverfolgung sind Menschen, denen Unterstützung der Aufständischen vorgeworfen wird. Es sind Menschen, die sich meist keinen Anwalt leisten können und viele Jahre hinter Gittern fristen. Grundlage ihrer Verurteilung ist eine Denunziation und eine Verhandlung, bei der es dem Richter reicht, zwei „glaubhafte Zeugen“ zu hören statt Beweise zu haben. Womit sich hoffentlich auch das Argument, staatliche Gefangene seien aber wenigstens durch „ordentliche Gerichte“ verurteilt worden, von selbst erledigt.

Denn es ist eher selten, dass es so „glimpflich“ wie bei Norberto und seinen Freundinnen und Freunden kam. Der damalige Student ist eine von fünf Personen, die im Juni 2005 festgenommen wurden. Die fünf – außer Norberto eine Erzieherin, ein Transporteur, ein Maurer, eine Studentin – kamen in mehr als eineinhalbjährige Untersuchungshaft. Ihnen wurden die oben genannten Taten zu Gunsten des ELN vorgeworfen. „Rebellion“, also Mitarbeit oder Mitgliedschaft in einer Guerilla: das wird zuweilen schon zum Delikt, wenn beim Angeklagten ein paar Zeitschriften mit Artikeln über die Aufständischen vorgefunden werden. Dabei gibt es in Kolumbien offiziell keine Zensur und auch keine verbotenen Druckerzeugnisse. Nicht verbotene Lektüre über die Guerilla ist offenbar ausreichend um für Jahre im Knast zu verschwinden. Andere, die am Ende nie verurteilt werden konnten, verbringen unschuldig sogar bis zu drei Jahre im Gefängnis, weil das Justizsystem langsam ist. Und weil arme Bauern auf dem Land schlechtere Karten haben als Norberto und seine Mitangeklagten, die sich Unterstützung von außen sicherten.

Hunderten anderen passiert Ähnliches in Kolumbien, Woche für Woche, Monat für Monat, seit die „Demokratische Sicherheit“ des Präsidenten Álvaro Uribe Politikziel ist. Sicherheit heißt für die einen, dass mit den immensen Geldern aus dem Kolumbienplan der USA zumindest die Hauptstädter/innen in den letzten Jahren eine scheinbare Ruhe vor dem jahrzehntealten Konflikt haben. Für die anderen heißt das, der Nachstellung durch das Denunziationssystem ausgesetzt zu sein, wo sich Geld für Spitzel verdienen lässt. Da nur für Erfolgsfälle bezahlt wird, kommen zwangsläufig oft Unschuldige unter die Räder.

Norberto verschwand für ein Jahr im Männergefängnis „La Picota“ in Bogotá. Während des Prozesses wurde er dann für vier Monate in ein Gefängnis nahe Pereira in Zentralkolumbien verlegt. Die letzten drei Monate war er wieder in „La Picota“, bevor er am 15. Januar 2007 entlassen wurde. „Ich werde diesen Tag nie vergessen. Hier ist die Entlassungsurkunde. Die trage ich immer bei mir.“ 19 Monate seines Lebens. Norberto würde nicht sagen „für nichts.“ Denn er hat gelernt zu überleben. Er weiß jetzt, wie aus ein paar Gefängnisutensilien ein Messer zu machen ist. Oder wie man eines bekommen kann. Das trägt jeder am Leib, sagt er. Norberto weiß, wie im Knast an eine Matratze und ein paar Decken und Bezüge zu kommen ist. Wer das Schmiergeldsystem nutzt, wie Drogen hineingeschmuggelt werden, wie die Knasthierarchie funktioniert. „Es gibt eine große Solidarität unter den Politischen, egal ob woher er oder sie kommt.“ Er lernte, dass Wärter großes Geld machen für eine bessere Zelle, und dann bei einer Razzia irgendetwas „finden“, was begründet, den Gefangenen in den Kerker zu stecken und die Zelle neu zu belegen – wieder gegen Bestechungsgeld.

Anfangs wurde Norberto bedroht in das Gefängnis „La Modelo“ zu kommen, aber er hatte Glück: dieses Gefängnis ist mehrheitlich von rechten Paramilitärs belegt, was für einen Linken eine ernste Lage bedeutet. Entweder Guerilla oder Paras beherrschen einen Gefängnistrakt. Früher war ein Zusammenleben von Guerilleros und Paramilitärs in einem Gang nicht möglich; es gab häufig Tote. Heute gibt es oft eine „einvernehmliche Regelung“. Einem „falschen“ Neuankömmling wird klargemacht, dass er im Trakt nicht erwünscht ist und über seinen Anwalt zusehen soll, verlegt zu werden. Man muss ihm Glück dafür wünschen.

Am 14. Juli allerdings wurden 25 politische Häftlinge des Gefängnisses „Doña Juana“ in La Dorada in den Strafkerker geworfen, weil sie sich einer Verlegung in andere Trakte verweigert hatten (KP-Zeitung „Voz“, am 23. Juli 2008). Sie kamen zu zweit in kleinste Räume, bei 30 Grad Hitze und ohne Wasserabgabe. Nach der Bestrafung wurden dann 19 der Gefangenen tatsächlich in drei andere Gänge verlegt, wo mehrheitlich Paramilitärs sind. Dem seit Jahren in Einzelhaft einsitzenden Jorge Augusto Bernal wurde sogar die täglich einzige Stunde Hofgang gestrichen. In einer Erklärung, die von „Voz“ am 1. Oktober zitiert wurde, verweisen 22 politische Gefangene von „Doña Juana“ auf die Gefahr, die ihnen durch die Verlegung droht. „Wir bitten um öffentliche Unterstützung, der gesellschaftlichen Organisationen und der heimischen wie ausländischen Menschenrechtsverteidiger. (…) Wir wollen in unseren Trakt für politische Gefangene so schnell wie möglich zurück.“

Für die einheimischen Menschenrechtler/innen war die Situation in den vergangenen zwanzig Jahren immer schwierig, aber mit der jüngsten Politik der Ausweisung von ausländischen Beobachter/inne/n der Situation der Menschenrechte wird sich die Lage der politischen Gefangenen noch verschärfen. Im Oktober hatten die zuständigen Behörden eine Deutsche und zwei Franzosen ausgewiesen, weil sie sich entgegen der Visumsbestimmungen in Politik eingemischt hätten. Die Beobachtung von Demonstrationen, bei denen Polizei und Militär unverhältnismäßig gegen Streikende vorgehen, ist nach Uribes Sichtweise eine verbotene Einmischung. Nicht abgeschoben, sondern in Kolumbien verurteilt hätten sie werden sollen, meinte denn auch der Präsident, konsequent mit seiner Politik der „Demokratischen Sicherheit“.

Die Stiftung „Komitee der Solidarität mit den politischen Gefangenen“ (CSPP) kommt in ihrem im Juni 2007 herausgegebenen Bericht über die Situation in Kolumbiens Gefängnissen („Prevenir Tortura“, Informe Analítico sobre Situación Carcelaria en Colombia 2004-2006, CSPP, Bogotá 2007) zu dem Ergebnis, dass die seit 2001 vom Nationalen Strafanstalt- und Gefängnisinstitut (INPEC) angestrebte „neue Gefängniskultur“ nichts weiter als eine PR-Aktion ist, die verdecken soll, wie es um die Menschenrechte in den Knästen des südamerikanischen Landes
steht. In einem am 31. Oktober 2001 vorgelegten gemeinsamen Bericht der Vereinten Nationen und des Ombudsmanns für das kolumbianische Volk wird ein verfassungswidriger Zustand und eine Verletzung der Menschenrechte festgestellt. Gelder des Kolumbienplans der USA wurden genutzt um Hochsicherheitsgefängnisse zu bauen, womit ein paar Bedingungen verbessert, andere aber verschlechtert wurden. Resozialisierung, so der Bericht des CSPP, sei unter der seit 2002 amtierenden Uribe-Regierung nicht mehr anerkannt worden; stattdessen wurde die Sicherheit allem vorangestellt. Mit der Folge, dass das vom Gesetz seit 1993 vorgesehene „progressive System“ der Vergünstigungen (Freigang, vorzeitige Entlassung nach guter Führung) praktisch unangewandt bleibt. Die von der Verfassung garantierte Würde der Gefangenen wird in jeder Hinsicht verletzt.

Norberto wurde bei Haftantritt die Haare geschoren, gegen seinen Willen. Oft werden die Gefangenen geschlagen, egal ob Politische oder „Normale“. „Du verlierst Deine Persönlichkeit, sie nehmen Dir auch Deinen Namen. Du bekommst ein Alias.“ Folter kann individuell von den Wärtern ausgehen: durch Wasserentzug oder grausame Behandlung wie Schlagen oder Treten. Aber auch institutionell vom Staat: die Sondergefängnisse, wo führende FARC- oder ELN-Mitglieder einsitzen, sind entweder von brütender Hitze oder von extremer Kälte geprägt. Aus dem Hochsicherheitsgefängnis „Cómbita“ werden ständig gefährliche Durchfallerreger gemeldet, da die Wasserversorgung miserabel ist. Ärzte seien nicht anwesend, sodass in Notfällen Inhaftierte sterben. Von einer sozialen oder psychischen Versorgung zu schweigen, sind auch AIDS-Träger einer enormen Gefahr ausgesetzt, wie auch ihre Mitgefangenen durch die ständige Ansteckungsgefahr. („Voz“ am 24. September 2008)

Die fehlende medizinische Versorgung ist nicht vereinbar mit dem Grundrecht auf Gesundheit, das in der Verfassung sowie den internationalen Abkommen verankert ist, die Kolumbien ratifizierte. Die Aufständischen kommen nicht selten mit Schuss- oder anderen Verletzungen in Haft, werden aber häufig nicht weiter behandelt. Auch anderen Beschwerden, wie Malaria oder andere Tropenkrankheiten, die durch den jahrelangen Urwaldaufenthalt verursacht werden, wird staatlicherseits nicht abgeholfen. Die Gefangenenorganisation von „La Modelo“ klagte im August in einem Brief den Tod des 87-jährigen Häftlings Felipe Carranza an, der erst zwei Monate zuvor inhaftiert worden war und an ausbleibender Behandlung verstarb. Im selben Gefängnis wird dem Gefangenen Henry Malagón seit acht Monaten eine Operation am Krebsgeschwür seines rechten Auges verweigert, weil die Verträge zwischen INPEC und der öffentlichen Krankenversicherung abgelaufen seien.

In den normalen Gefängnissen Kolumbiens sind nach INPEC-Angaben derzeit 60 000 Menschen, darunter 7 200 politische Gefangene, denen Rebellion oder Unterstützung vorgeworfen wird. Weitere zehntausend Menschen sind in Gefängnissen, die nicht dem INPEC unterstehen, also bei Polizei oder Militär einsitzend. Nach CSPP-Angaben sind 1 500 der politischen Gefangenen Guerilleros, und 5 700 Gewerkschafter, Menschenrechtler, Angehörige von Aufständischen, Bauern, Studierende und andere, die in der einen oder anderen Weise politisch aktiv sind. Das INPEC kennt offiziell gar keine politischen Gefangenen, denn nach Uribes Lesart handelt es sich „um Kriminelle und Terroristen“. Die Politik des INPEC, sagt das Solidaritätskomitee, ist letztlich Teil der Regierungsstrategie den bewaffneten Konflikt auszublenden, so als ob es ihn nicht gäbe.

Ist es für Norberto, wegen angeblicher Unterstützung des ELN in Untersuchungshaft, von Vorteil, dass er offiziell kein „Politischer“ war? Egal, es ist letztendlich nicht nur seiner, sondern auch der Ruf der Familie ruiniert, trotz des Freispruchs. Eine Wiedergutmachung ist in weiter Ferne: einen Antrag hat Norberto eingereicht, aber eine tatsächliche Reparation (entweder mit Geld oder den Ruf betreffend) wird mindestens fünf Jahre dauern. Und wer durch die falsche Anschuldigung seinen Job verloren hat, wird schwerlich in dieselbe Stelle zurückkommen – bekanntlich bleibt immer etwas haften. Wusste schon Goebbels.

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