In Frankreich kam es laut Berichten bürgerlicher Medien und Presseagenturen am Donnerstag, den 12. November in drei Städten zu Verhaftungen in Zusammenhang mit Hakenkrallenangriffen auf Zugstrecken am vergangenen Wochenende. Den Berichten zufolge wurden 10 Personen verhaftet, die wahlweise als Angehörige einer „anarchistischen“ oder „anarcho-autonomen“ Gruppe oder „Zelle“ mit internationalen Kontakten zu gleichgesinnten Gruppen beschrieben werden. Politiker und Medien stricken in ihren ersten Kommentierungen am Konstrukt eines internationalen „Terrornetzwerks“ und einer Wiederkehr „linken Terrorismus“ im Stile der 70er Jahre. Solche Deutungen stehen im auffälligen Wiederspruch zu Stellungnahmen der Polizei, die bestätigen, daß die Hakenkrallen offenbar umsichtig angebracht wurden, um eine Verletzung von Menschen auszuschließen. Inzwischen wird einzelnen Verdächtigen auch unterstellt, für einen Anschlag in den USA verantwortlich zu sein.
An den Razzien in den frühen Morgenstunden des 12. November, bei denen es zu den 10 Verhaftungen kam, sollen über 300 Polizeibeamte eingesetzt worden. Die Razzien fanden in Paris, Tarnac und Rouen statt und führten laut Angaben des französischen Innenministeriums zunächst zur Verhaftung von 20 Personen, von denen 10 weiterhin festgehalten werden. Angeblich soll ein Fingerabdruck in der Nähe eines Tatorts die Ermittler auf eine libertäre Kommune in Tarnac gebracht haben. Zwei der Verhafteten werden von der Presse bereits namentlich genannt: Julien Coupat, dem unterstellt wird, „Führer“ der Gruppe zu sein, und seine Freundin Yldune L.
Experten der Zuggesellschaft und der Ermittlungsbehörden hatten nach den ersten Untersuchungen berichtetet, die Hakenkrallen seien so angebracht worden, daß sie Schaden an den Oberleitungen anrichten konnten, ohne Unfälle zu verursachen. Auch wurde den UrheberInnen technischer Sachverstand bescheinigt. Ein Zusammenhang zu einem Vorfall in Südfrankreich vom Sonntag, bei dem ein TGV gegen einen auf den Gleisen zurückgelassenen Betonblock stiess, wurde von den Behörden daher ausgeschlossen. Die Polizei geht davon aus, daß es sich dabei um eine Aktion von NachahmerInnen handelte, die „nicht mit der anarchistischen Bewegung verbunden“ sei.
Trotz solch eindeutiger Hinweise, daß es den UrheberInnen lediglich um Sachbeschädigungen ging und jegliche Gefährdung von Menschen ausgeschlossen wurde, überschlagen sich PolitikerInnen und Medien nun darin, die Verhafteten als furchteinflößende, gewalttätige Charaktere zu beschreiben, die Teil eines internationalen Netzwerks sein sollen.
Die französische Innenministerin Michele Alliot-Marie sagte, der politische Geheimdienst habe die „ultralinke anarchistische Bewegung“ seit Monaten beobachtet und nach den Anschlägen vom Wochenende zugeschlagen. „Wir haben festgestellt, daß diese ultralinke Bewegung über Verbindungen in fünf europäische Länder und in anderen nicht-europäischen Ländern verfügt“ hieß es. Den Verhafteten werden u.a. Kontakte in England, Belgien, Deutschland, Italien und Griechenland unterstellt.
Alliot-Marie behauptete weiter: „Diese Individuen zeichnen sich durch eine totale Ablehnung jeglicher demokratischen politischen Meinungsäußerung und einen extrem gewalttätigen Tonfall aus.“
Die französische Presseagentur AFP ließ außerdem verlauten, eine Quelle aus dem Umfeld der Ermittlungsbehörden habe sie darüber informiert, daß mögliche Verbindungen zwischen den Verdächtigen und der deutschen „extremen Linken“ untersucht würden, welche „die Verantwortung für Aktionen gegen Züge übernommen hat, die Atommüll transportieren“.
Doch damit nicht genug. In gewollter Verzerrung der von ihr selbst dokumentierten Vorgänge verbreitet die bürgerliche Presse nun Furcht vor der „Wiederkehr eines linken Terrorismus der 70er Jahre“. So stellt die britische Times einen Zusammenhang zwischen den Verhafteten und bewaffneten Gruppen wie der RAF, Action Directe oder den Roten Brigaden her, behauptet die UrheberInnen der Hakenkrallen-Anschläge hätten sich von der französischen Action Directe inspirieren lassen und zählt auf, wie viele Tote auf das Konto der einzelnen bewaffneten Gruppen gehen. Auch in allen anderen Berichten über die Ereignisse wird trotz ihrer gewaltfreien Aktion die angebliche Gewalttätigkeit der UrheberInnen betont und die Existenz eines internationalen linken Netzwerks beschworen.
Daß zwischen derartigen Terrorphantasien und der offenbar umsichtig geplanten gewaltfreien Aktion vom Wochenende keinerlei Zusammenhang besteht, stört die KommentatorInnen nicht. Der Antiterror-Reflex ist am Beispiel (teils mutmaßlicher) islamischtischer Terroranschläge in den letzten Jahren emsig eintrainiert worden und funktioniert nun umstandslos. Libertäre, BürgerrechtlerInnen und radikale Linke sollten diese Propagandastrategie ernst nehmen, genau verfolgen und öffentlich darüber aufklären. Denn das Schreckgespenst des „linken Terrors“, das hier von der Presse beschworen wird, ist ein weiterer Schritt zur Kriminalisierung jeglichen sozialen Protests. Vor allem Protestbewegungen, die sich direkter Aktionen bedienen, geraten zunehmend in das Fadenkreuz von Politik und Behörden, wenn es gilt, AktivistInnen als TerroristInnen darzustellen und mit dem immer grenzenloser werdenden Instrumentarium des „Kriegs gegen den Terror“ zu bekämpfen. Zwei Beispiele aus der letzten Zeit, die Umweltbewegung ganz offiziell auf eine Stufe mit Terrorismus zu stellen, waren der Jahresbericht von Europol, in dem Feldbefreiungen als Terrorismus eingestuft wurden[1] sowie ein Bericht der Antiterror-Koordinationseinheit der britischen Polizei, in dem vor der „wachsenden Gefahr des Öko-Terrorismus“ gewarnt und insbesondere die Gruppe Earth First! mit Genozidabsichten in Verbindung gebracht wird.
Den Verhafteten vom 12. November werden nun auch nicht mehr bloß die Anschläge auf die TGV-Oberleitungen vorgeworfen. Gestern berichteten englischsprachige Medien, das FBI habe zwei von ihnen mit einer Brandstiftung („Bombenanschlag“) auf ein Rekrutierungszentrum des US-Militärs am New Yorker Times Square im März in Verbindung gebracht. Obwohl die beiden namentlich genannten Verdächtigten (s.o.) vor dem Anschlag ausgereist seien, wären sie angeblich noch nach ihrer Ausreise bei einem anarchistischen Treffen in New York gesehen worden. Auch seien sie im Januar angeblich bei einem illegalen Einreiseversuch an der US-amerikanisch/kanadischen-Grenze mit anarchistischen Texten und einem Foto des Rekrutierungszentrums aufgegriffen worden. Das FBI habe darauf die französischen Behörden zur Überwachung der französischen Kommune in Tarnac veranlasst, behaupten die Presseberichte.
Diese Zusammenfassung beruht ausschließlich auf Artikeln aus der englischsprachigen bürgerlichen Presse, u.a.:
http://news.yahoo.com/s/afp/20081111/ts_afp/francerailtransportattackarrests
http://www.timesonline.co.uk/tol/news/world/europe/article5132089.ece
http://www.telegraph.co.uk/news/worldnews/europe/france/3451962/French-anarchists-linked-to-New-York-bombing.html
Fussnoten:
[1] http://de.indymedia.org/2008/04/214921.shtml
[2] http://www.gipfelsoli.org/Home/Other_Protests/Klima/5686.html