Von: Bärbel Schönafinger,SoZ – Sozialistische Zeitung/ Für Stimme des Neuen Kolumbien
Sozialen Protest behandelt die Regierung wie Terrorismus.
In Kolumbien, das 44 Millionen Einwohner zählt, leiden 30 Millionen in der einen oder andern Form an Mangelernährung. Von diesen 30 Millionen sind 16 Millionen unterernährt, 4 Millionen sind vom Hungertod bedroht. Während in den Plantagen noch leidlich Essen ankommt, haben die Familien der Arbeiter gar nichts.
Am 15.September 2008 haben 8500 Zuckerrohrarbeiter in den Departements Valle del Cauca, Risaralda und Cauca die Arbeit niedergelegt und 8 der 13 Zuckerrohrplantagen besetzt. Die Arbeiter, die in sklavenähnlichen Zuständen leben, fordern direkte Arbeitsverträge und einen Lohn, der zum Überleben reicht. Typisch für Kolumbien ist, dass der Konflikt nicht als Arbeitskonflikt behandelt wird, sondern als Sicherheitsproblem.
Staatspräsident Álvaro Uribe Vélez und der Minister für soziale Sicherheit, Diego Palacio, behaupten, der Streik sei von „dunklen Mächten” infiltriert. Ob damit die Guerilla gemeint ist oder die Gewerkschaften, bleibt unklar. Die Einschätzung dient jedoch als Vorwand, die Armee und Aufstandsbekämpfungseinheiten in die besetzten Plantagen zu schicken. Bisher wurden etwa 30 Arbeiter verletzt.
Zwölf und mehr Stunden am Tag schneiden die Arbeiter das Zuckerrohr. Ihre Frauen stehen um 3 Uhr auf und kochen ihnen Essen, das sie mitnehmen, wenn sie um 4 Uhr aufbrechen, damit sie um 6 Uhr auf der Plantage sind. Wenn sie zurückkommen, waren sie 16 Stunden unterwegs, und es bleibt keine Zeit für die Familie, zumal sie in der Regel auch sonn- und feiertags arbeiten und nur alle zwei Wochen einen Tag frei nehmen.
Trotz dieser enormen Anstrengung können sie ihre Familien nicht ausreichend mit Essen versorgen, ganz abgesehen von den Kosten für das Schulgeld, die Hefte, Stifte und Schuhe, die die Kinder brauchen, um in die Schule gehen zu können. Die wenigen Frauen, die arbeiten gehen, verdienen als Haushaltshilfen 200000 Pesos. Davon müssen sie einen guten Teil für die Anreise ausgegeben, sodass ihnen etwa 100000 Pesos bleiben (32 Euro).
Wenn sie krank sind, bekommen sie keinen Lohn, und wenn sie längere Zeit nicht zur Arbeit gehen, verlieren sie ihre Anstellung.
Die Familien der Corteros wohnen in Barrios, Slums ohne sanitäre Anlagen, mit schlechter Gesundheitsversorgung, ohne Perspektiven und ohne soziale Partizipation. Zu den typischen Problemen gehört, dass viele Mädchen sehr früh, mit 10, 11 Jahren, schwanger werden.
Die Gesundheitsversorgung besteht oft nur darin, Schmerzmittel zu bekommen, denn obwohl die Arbeiter jeden Monat Beiträge für die Krankenversicherung zahlen, müssen sie jeden Arztbesuch und die Medikamente extra bezahlen.
Der Bruttoverdienst der „Corteros” beläuft sich im Durchschnitt auf weniger als den gesetzlichen Mindestlohn; der beträgt in Kolumbien 460500 Pesos (etwa 150 Euro). Man zahlt ihnen einen bestimmten Betrag pro Tonne geschnittenen Zuckerrohrs. Da sie jedoch keine direkten Arbeitsverträge haben, sondern in sog. Arbeitskooperativen (CTA — Cooperativas de Trabajo Asociado) organisiert sind, verlieren sie von diesem geringen Einkommen noch etwa die Hälfte: Die Kooperative zieht ihnen Sozialversicherungsbeiträge und Nebenkosten etwa für den Transport zum Arbeitsplatz ab. Als reales Einkommen bleibt den Arbeitern im Durchschnitt lediglich 220000 Pesos (72 Euro) im Monat übrig — weniger als die Hälfte des gesetzlichen Mindestlohnes. Überflüssig zu sagen, dass sie davon auch ihre Arbeitskleidung und die Machete kaufen müssen.
Zudem werden sie beim Wiegen des Zuckerrohrs systematisch betrogen. In den Zuckerrohranlagen werden täglich 8100 Tonnen Zucker produziert, sowie 950000 Liter Ethanol, das dem Benzin beigemischt wird. Von den Bruttoeinnahmen gehen 92,24% an die Unternehmen, den Staat und die Banken, und 7,76% an die Arbeiter und Angestellten. Die gesamte Zuckerindustrie liegt im wesentlichen im Besitz von drei Familien; einer davon gehört Ardila Lulle, der in Kolumbien über ein Medienimperium verfügt und großen politischen Einfluss hat. Die Ethanolproduktion wird staatlich subventioniert, den Unternehmen wird die Abnahme des Ethanols garantiert.
Der Streik
Dem Streik waren eine breite Mobilisierung und viele Versammlungen vorausgegangen, an denen sich Tausende Menschen beteiligt hatten. Die Arbeiterkomitees erarbeiteten zusammen mit den Gewerkschaften Sinaltrainal und Sinalcorteros und der „Bewegung 14.Juni” (um den Abgeordneten Alexander Lopez Maya vom Polo Democratico Alternativo) einen Forderungskatalog, dessen wichtigster Punkt die Forderung nach direkten Arbeitsverträgen mit den Betreibern der Anlagen ist.
Am 14.Juli 2008 wurde der Katalog dem Verband der Zuckerindustrie, ASOCAÑA, übergeben. Der Verband weigert sich jedoch bis heute, Verhandlungen aufzunehmen. Der tiefer liegende Grund dafür könnte sein, dass der kolumbianische Staat befürchtet, ein Erfolg der Zuckerrohrarbeiter könnte zu einer Welle von Streiks im ganzen Land gegen das juristische Konstrukt der Arbeitskooperativen führen.
Die Arbeitskooperativen sind ein wichtiger Baustein bei der Liberalisierung des Arbeitsmarkts, die seit den Gesetzen von 1990 zu einer immer weiter stärkeren Prekarisierung der Arbeitsbeziehungen geführt hat.
Seit Beginn des Streiks haben die Arbeiter kein Geld erhalten. Sie sind vollkommen auf die Unterstützung durch die Bevölkerung angewiesen, die sich zwar solidarisch zeigt, aber selber arm ist. In Kolumbien, das 44 Millionen Einwohner zählt, leiden 30 Millionen in der einen oder andern Form an Mangelernährung. Von diesen 30 Millionen sind 16 Millionen unterernährt, 4 Millionen sind vom Hungertod bedroht. Während in den Plantagen noch leidlich Essen ankommt, haben die Familien der Arbeiter gar nichts.
Am 2.Oktober 2008 kamen etwa 5000 Frauen und Kinder der Zuckerrohrarbeiter nach Cali, um für die Aufnahme von Tarifverhandlungen zu demonstrieren und ihrem Zorn freien Lauf zu lassen. Eine internationale Beobachterin aus Deutschland wurde im Verlauf der Demonstration festgenommen und aus Kolumbien ausgewiesen. Dies wirft ein kleines Schlaglicht auf die staatliche Repression, mit der alle sozialen Bewegungen in Kolumbien zu rechnen haben.
Die Aufstandsbekämpfungseinheit ESMAD, die auch in den bestreikten Plantagen unterwegs ist, hat allein im Jahr 2005 drei Menschen getötet: den Studenten Johnny Silva (durch Genickschuss), den 15-jährigen Nicolas Neira (durch Kopfschuss) und den 16-jährigen Indígena Belisario Camallo Guetoto. Auch die Gewerkschafter, die den Streik unterstützen, tun dies, obwohl sie wissen, dass sie mit Folter und Mord rechnen müssen. Im diesem Jahr wurden in Kolumbien bereits 42 Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter ermordet, darunter 21 Vertreter der Lebensmittelgewerkschaft Sinaltrainal.
Seit Beginn des Streiks sind, in wechselnder Besetzung, etwa 30 Genossen von Sinaltrainal aus dem ganzen Land vor Ort, um den Streik zu unterstützen. Sie bleiben, solange ihre Freistellung dauert. Sie fahren jeden Tag in die Plantagen zu den Streikenden, um sie zu informieren und in ihrer Organisation zu unterstützen. Sinaltrainal macht zudem logistische Arbeit und versucht, die Menschen in den umliegenden Dörfern über den Streik zu informieren und Solidarität zu organisieren.
Das Ziel von Sinaltrainal ist, dass durch eine breite Mobilisierung der Bevölkerung aus dem reinen Arbeitskonflikt ein sozialer Konflikt wird, der von der Bevölkerung auch als solcher wahrgenommen wird.
zugefügt am: 3 Nov 2008