Irland und die Krise – Der keltische Bettvorleger

Von Pit Wuhrer, Monaghan

Die Wirtschaftszahlen sind seit langem schlecht, und doch wollten viele nicht so recht an die Krise glauben. Bis zum Notbudget, das die Dubliner Regierung letzte Woche vorlegte.

Die Lage an dem kleinen See ist prächtig, die North Street gilt als beste Adresse, das Stadtzentrum ist höchstens 300 Meter entfernt. Und doch steht Lakeside Walk, Monaghans neuestes Einkaufszentrum, seit seiner Fertigstellung vor einem Jahr leer. Die Nachbargebäude werden ebenfalls kaum genutzt. Der Besitzer von «Mario’s Pizzeria» nebenan hat die Leuchtreklame abschrauben lassen.

Ein paar Schritte weiter gibt es noch Läden, die jedoch nur das untere Marktsegment bedienen: ein Geschäft für billiges Kinderspielzeug und ein Spielautomatencasino. Die North Street ist keine «prime site» mehr; dafür hängen jetzt Plakate in den Schaufenstern mit der Aufschrift «to let», zu vermieten. Aber mieten kann man derzeit viel im Stadtkern von Monaghan: Ladenflächen, Geschäftshäuser, Wohnungen. «Es sieht nicht gut aus», sagt Peter McAleer vom lokalen Gewerkschaftsbund, «und es kommt noch viel schlimmer.»

Monaghan liegt im Norden der irischen Republik. Die Grenze zu Nord­irland ist nur ein paar Hügel entfernt. Die meisten Menschen leben in kleinen Weilern, die Grafschaft Monaghan zählt etwa 55 000 EinwohnerInnen, 8500 davon leben in der Hauptstadt, die ebenfalls Monaghan heisst. Der Agrarsektor spielt eine gewichtige Rolle, überdurchschnittlich viele Menschen arbeiten auf Pilzfarmen, in der Viehzucht, für Schlachtfabriken. Die Bauindustrie war bis vor einem Jahr ebenfalls von Bedeutung gewesen. Doch derzeit breche vieles zusammen, sagt McAleer.

Erst vor kurzem hat John E. Coyle’s, eine landesweit bekannte Möbelfabrik, Konkurs angemeldet und über hundert Beschäftigte entlassen. Kingspan Century­ Homes – Irlands grösstes Unternehmen für die Fertigung von Holzrahmenkonstruktionen, die beim Hausbau verwendet werden – kündigte der halben Belegschaft. Der Baumarkt Patton’s existiert nicht mehr; zwei Dutzend Angestellte verloren ihren Job. Selbst bisher erfolgreiche Firmen wie der Gabelstaplerhersteller Combilift stecken in grossen Schwierigkeiten. Von der Krise betroffen sind mittlerweile auch Agrarunternehmen wie etwa die Grossmetzgerei Grove, die Truthahnfleisch verarbeitet: Rund fünfzig der hundert Beschäftigten sind seit ein paar Wochen arbeitslos.

Für eine Kleinstadt sind das enorm hohe Zahlen, hängen doch an jedem Betrieb weitere Arbeitsplätze. So manche Kleinspedition habe all ihre Fahrer entlassen, sagt McAleer. «Da kurvt jetzt wieder der Chef durch die Gegend, und seine Frau kümmert sich um die Finanzen.» Innerhalb von nur einem Jahr sei die Arbeitslosigkeit in der Grafschaft um über hundert Prozent in die Höhe geschnellt; die Quote liege bei zwölf Prozent. Das entspricht in etwa dem Landesdurchschnitt. Seit einem halben Jahr wächst die Zahl der offiziell registrierten Arbeitslosen um 27 000 im Monat – und das bei einer Gesamtbevölkerung von 4,4 Millionen. Ende 2009, davon geht die Regierung aus, dürfte die Arbeitslosenquote bei fünfzehn Prozent liegen.

Ein Katastrophenbudget

«Niemand weiss, was noch kommt», sagt auch Patricia Hamill. Die Buchhalterin arbeitet in einer Handelsfirma, die Schinken aus Dänemark und Deutschland einführt und irisches Schweinefleisch nach Italien und Britannien verkauft. «Ich habe es mir inzwischen abgewöhnt, mir Sorgen zu machen», sagt die 54-Jährige; schlaflose Nächte würden ohnehin nichts ändern. «Vielleicht stehe ich morgen auf der Strasse, vielleicht überlebt der Betrieb noch eine Weile.» Hamill, Mitglied der linken Independent Workers Union, einer kleinen radikalen Gewerkschaft, reagiert pragmatisch auf die Krise.

Und doch staunt sie über den Gleichmut vieler Beschäftigten. «Die meisten hoffen noch immer, dass ihnen die Rezession nichts anhaben kann», sagt sie, «dass alles bald vorbei ist.» Wer heute arbeitslos wird, bekommt in der Regel eine Abfindung und zwölf Monate lang ein halbwegs akzeptables Arbeitslosengeld, sagt Hamill. Das beruhige die Leute. Doch auf Dauer sei niemand sicher. Und überhaupt: «Wer muss denn für das Desaster zahlen, das die Banken, die Bosse und die Politiker verursacht haben?»

Seit Dienstag vergangener Woche ist klar, wer zahlen muss. An diesem Tag präsentierte die irische Regierung – gebildet von der konservativen Partei Fianna Fáil und den Grünen – ein Notbudget, um die Löcher zu stopfen; für ein Konjunkturprogramm ist schon lange kein Geld mehr da. Auf 23 Milliarden Euro schätzt die Regierung das Haushalts­defizit im laufenden Finanzjahr. Das sind rund 35 Prozent des Gesamtbudgets (65 Milliarden Euro). Um die Neuverschuldung in Grenzen zu halten, müssten nun alle den Gürtel enger schnallen. Im Januar hatte Irland mit der EU-Kommission eine Maximalverschuldung von 9,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts BIP (rund 165 Milliarden Euro) vereinbart, weit mehr als die in der Eurozone erlaubten 3 Prozent – aber immer noch viel zu wenig. Und so steigen ab Anfang Mai die bereits zu Jahresbeginn angehobenen Einkommensteuern um weitere zwei bis sechs Prozentpunkte, manche Verbrauchssteuern wurden sofort erhöht – und gleichzeitig kürzte die Regierung die Ausgaben, vor allem im Sozialbereich. So müssen jetzt erstmals Menschen, die nur den Mindestlohn (8,65 Euro) verdienen, Einkommenssteuern bezahlen; erwerbslose Jugendliche unter 21 Jahren erhalten nur noch halb so viel Arbeitslosengeld. Die Firmen hingegen kommen ungeschoren davon: Die Unter­nehmenssteuer bleibt auf dem europaweit niedrigsten Stand von 12,5 Prozent.

Staat rettet Banken

Die IrInnen müssten sich darauf einstellen, dass ihr Lebensstandard um etwa zehn Prozent sinke, sagt Premierminister Brian Cowen. Dreissig Prozent seien realistischer, entgegnen Wohlfahrtsorganisationen, die in Dub­lin mittlerweile Lebensmittelpakete verteilen und den Ansturm kaum bewältigen können. Laut Finanzminister Brian Lenihan wird es auch 2010 und 2011 Einschnitte geben, die dann noch drastischer ausfallen.

Denn mit dem Notbudget wurde auch ein Bankenplan verabschiedet, der alle Massstäbe sprengt. Bereits Ende September hatte sich die irische Regierung verpflichtet, im Notfall alle Verbindlichkeiten der grössten Banken zu übernehmen – sie garantierte damit für ein Gesamtrisiko in Höhe von 400 Milliarden Euro, also für das Zweieinhalbfache des irischen BIP. Das sei aber nur ein theoretischer Wert, versicherte Cowen damals. Im Januar aber musste der Staat die in allerlei Skandale verstrickte Anglo-Irish Bank mit ihren Aussenständen (72 Milliarden Euro vor allem im Immobiliensektor) übernehmen. Im Februar half das schwarz-grüne Kabinett den beiden grössten Privatbanken des Landes, der Allied Irish Bank und der Bank of Ireland, mit sieben Milliarden aus der Patsche. Und nun beschloss es als erste europäische Regierung die Einrichtung einer «bad bank», einer schlechten Bank.

Diese Bank in Form einer Regierungsbehörde nimmt den Grossbanken faule Papiere im Gesamtwert von 90 Milliarden Euro ab. Der Preis wird noch geheim gehalten. ExpertInnen gehen aber davon aus, dass der Staat den Banken bis zu 77 Milliarden Euro überweisen wird – Geld, das für immer verloren ist, falls sich die Papiere und deren Sicherheiten wie Grundstücke und Neubauprojekte als unverkäuflich, als wertlos erweisen sollten. Noch bemerkenswerter ist: Bedingungen gibt es keine. Eine Teilverstaatlichung werde erst in Betracht gezogen, wenn die Banken noch mehr Geld benötigten, sagt Finanzminister Lenihan.

«Die Regierung hat nichts kapiert», sagt Tony McPhillips in Monaghan, «sie hat nicht gesehen, dass sich die ausländischen Investoren allmählich zurückziehen, und sie hat nicht begriffen, dass der Immobilienmarkt tot ist.» Innerhalb nur eines Jahres seien die Haus- und Grundstückspreise um dreissig Prozent abgestürzt, erläutert der Steuerberater, der auch für Baufirmen arbeitete. «Die Politiker sind viel zu lange davon ausgegangen, dass der Boom ewig andauert und die Gelder fliessen» – etwa in Form von Immobiliensteuern.

Anderthalb Jahrzehnte lang währte das irische «Wirtschaftswunder», zeigte der «keltische Tiger» seine Krallen. Seit Beginn der neunziger Jahre hatten immer mehr ausländische Firmen Filialen auf der Insel eingerichtet – angelockt von niedrigen Steuersätzen, kostenlosen Grundstücken, Planungsfreiheiten und jungen, gut ausgebildeten und damals noch billigen Arbeitskräften. IBM, Intel, Hewlett-Packard, Apple, Dell, Lufthansa, Swissair – alle kamen. Callcenter, Hardwareunternehmen, Softwarebuden sorgten für Wachstum, Jobs und Konsum. Vor allem im Wohnungssektor wuchs die Nachfrage, die Preise explodierten, die Banken witterten gute Geschäfte. «Alle verdienten daran», sagt McPhillips: «Die Banken finanzierten die Bauherren, die den Bauern das Land für gutes Geld abkauften, und schmierten danach die Politiker, die die Wiesen in Bauland umzonten.» Selbst Zwanzigjährige ohne eigenes Kapital bekamen Hypothekarkredite nachgeworfen, und als die meisten Normalverdienenden ein Haus oder sogar zwei hatten, investierten die Banken in Bauprojekte in Polen, Bulgarien, der Türkei. «Mir haben schon vor fünf Jahren Bauunternehmer gesagt, dass das auf Dauer nicht gut gehen kann», erinnert sich McPhillips. «Und doch haben alle weitergemacht.» Und zwar auch dann noch, als die ausländischen Konzerne ihre Zelte abzubauen begannen und Richtung Osteuropa weiterzogen. IBM, Apple, Hewlett-Packard reduzierten ihre Belegschaften, Dell entliess in den letzten drei Monaten 2100 Beschäftigte, Lufthansa erzwingt gerade Lohnkürzungen, SR Technics (Hauptsitz in Zürich) hat vorletzten Freitag 600 Leute auf die Strasse gesetzt und weiteren 535 Angestellten gekündigt.

«Die Party ist vorbei», sagt Peter McAleer vom Gewerkschaftsbund in Monaghan; die Löhne sinken, viele können die Kredite nicht mehr bedienen. Grosser Widerstand sei leider nicht zu erwarten. Vor drei Wochen hatten die Gewerkschaftsspitzen einen bereits beschlossenen Generalstreik wieder abgesagt, weil ihnen die Regierung neue Verhandlungen anbot. «Die Führung ist immer noch auf die Sozialpartnerschaft fixiert», kritisiert McAleer; dabei hätten die RentnerInnen im Herbst gezeigt, was möglich ist. Als ihnen mit dem Oktoberbudget die Krankenversicherung gekürzt werden sollte, umzingelten sie kurzerhand das Parlament – und setzten sich durch.

Besonders fatal sei, dass die Fremdenfeindlichkeit zunehme, sagt der Gewerkschafter: «Ausgerechnet in Irland mit seiner langen Migrationstradi­tion.» Rund 50 000 osteuropäische Migrant­Innen haben die Insel im letzten Vierteljahr verlassen. Auch irische Jugend­liche würden – wie zuletzt in den achtziger Jahren – vermehrt eine Auswanderung ins Auge fassen. Doch wohin? «Früher emigrierten sie vor allem in die USA und nach England», sagt Peter McAleer. Dort aber sind offene Stellen ebenfalls rar geworden.

aus: WOZ vom 16.04.2009

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