Venezuela: Reform der Rätedemokratie

Parlament verabschiedet Reform des Gesetzes über Stadtteilräte. Neue Zuständigkeiten und Sonderstatus für die Consejos Comunales

Von Jan Kühn

amerika21.de

Versammlung zur Diskussion des neuen Gesetzes über die Consejos Comunales

Caracas. Das Herzstück der partizipativen Demokratie in Venezuela bekommt eine neue Rechtsgrundlage. Am Dienstag vergangener Woche verabschiedete die Nationalversammlung nach mehrmonatigen Diskussionen mit Vertreterinnen und Vertretern dieser rätedemokratischen Strukturen eine Reform des Gesetzes über die Consejos Comunales (Stadtteilräte). Die Reform beinhaltet strukturelle Änderungen der Funktionsweise sowie der Finanzverwaltung der Räte, außerdem werden weitere Aufgaben im Bereich der sozioproduktiven Entwicklung übertragen. Die neue Regelung für Basisstrukturen erhält den Status eines Sondergesetzes.

Die basisdemokratischen Stadtteilräte, von denen heute über 30.000 im ganzen Land existieren, sollen den organisierten Gemeinden die Möglichkeit geben, direkt über die Belange ihrer Nachbarschaft zu entscheiden. Sie bestehen in der Regel aus einer Vielzahl von Komitees, die zu verschiedenen Bereichen wie Kultur, Bildung, Gesundheit oder Sport arbeiten. Ein Schwerpunkt liegt jedoch auf der Bekämpfung der defizitären Infrastruktur vor allem in den Armenvierteln. So beziehen sich viele Projekte der Räte auf den Ausbau von Straßen, Wasserleitungen und Abwassersystemen, Stromversorgung oder die Sicherung einsturzgefährdeter Häuser. Seit ihrer Einrichtung erhalten die Consejos Comunales schrittweise mehr Entscheidungskompetenzen von den Bürgermeisterämtern übertragen. Dies drückt sich auch in einer zunehmend besseren finanziellen Ausstattung aus. Seit April 2006 regelt ein eigenes Gesetz die Funktionsweise der Consejos, nun erfährt es eine erste Reform.

Direkte Beteiligung an der Reform der direkten Demokratie

Nachdem die Räte drei Jahre lang Zeit hatten, Erfahrungen zu sammeln, begann Anfang des Jahres 2009 in Zusammenarbeit mit Abgeordneten der Nationalversammlung eine Evaluation der bisherigen Arbeit. Beratungen haben “in allen Ecken Venezuelas” stattgefunden, erklärte der Präsident der Parlamentskommission für Bürgerbeteiligung, Darío Vivas. In den letzten Monaten seien die Ergebnisse von knapp 2.500 lokalen Diskussionsforen ausgewertet worden, an denen über 60.000 Sprecherinnen und Sprecher der Stadtteilräte teilgenommen haben. Die dort erarbeiteten Vorschläge sind die Grundlagen für die Gesetzreform.

Vereinfachte Gründung, breitere Beschlussfassung

Eher unscheinbare Änderungen beziehen sich auf die Funktionsweise der Rätestrukturen und ihre Anpassung an die Praxis. So wird zum Beispiel die Zahl der für die Gründung eines Stadtteilrates nötigen Familien von 200 auf 150 gesenkt, während der Vollversammlung eine Mindestbeteiligung von 30 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner vorgeschrieben wird. Zuvor hatten hierfür 20 Prozent ausgereicht. Die Vollversammlung bleibt auch nach der Reform das einzig beschlusskräftige Gremium eines Stadtteilrates. Neu im Gesetz ist die Möglichkeit Sprecherinnen und Sprecher abzuwählen. So erhält die Figur der Abwahlreferenden, die bereits für alle Mandatsträger auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene existiert, auch Einzug in die direkt-demokratischen Instanzen. Eine weitere Neuerung ist die Einführung eines Koordinationsorgans, des sogenannten Colectivo de Coordinación Comunitaria. Es soll die bestehenden drei Säulen des Rates zusammenbringen, also die Sprecherinnen und Sprecher des Exekutivkomitees, jene der Finanzkommission und die der Rechnungsprüfung.

Kommunale Banken eingegliedert

Im Bereich der Finanzen werden nun die bisher als Kooperativen betriebenen Kommunalen Banken in die Struktur der Räte eingegliedert. Sie verschmelzen mit der Finanzkommission einer “Nachbarschaftlichen Verwaltungs- und Administrationseinheit”, die wie zuvor die Gelder verwaltet, welche vorwiegend aus staatlichen Quellen kommen. So können die Consejos Comunales ihre Projekte z.B. über einen Fonds der Nationalregierung finanzieren, der einen festen Platz im Bundeshaushalt hat. Auch finanzieren die staatlichen Wasser- und Energiebetriebe sowie die Landesregierungen und Bürgermeisterämter teilweise direkt Projekte der Stadtteilräte. In manchen Bezirken, wie z.B. im Hauptstadtbezirk Libertador in Caracas, ergeben sich außerdem weitere Quellen durch die Einführung eines partizipativen Bürgerhaushalts.

Auftrag: Entwicklung der lokalen Wirtschaft

Eine andere qualitative Neuerung des Gesetzes bezieht sich auf den sozio-ökonomischen Auftrag, den die Räte von nun an erhalten. Im Gegensatz zur alten Version schreibt das neue Gesetz den Consejos Comunales explizit vor, die Entwicklung sozialer und alternativer Wirtschaftsformen voranzutreiben. Bei diesen soll das “soziale Interesse” der “Akkumulation von Kapital” übergeordnet sein. Um sozio-ökonomische Initiativen zu Unterstützen, werden die wirtschaftlichen Aktivitäten der Stadtteilräte von jeglichen Steuern und Gebühren befreit.

Besonderer Status des Gesetzes

Um diese Änderungen zu schützen soll das Gesetz nun außerdem den Status eines Sondergesetzes (”Ley Orgánica”) erhalten. Die Verfassung regelt in Artikel 203, dass solche Gesetze zur Verabschiedung genauso wie zur Veränderung eine Zweidrittelmehrheit benötigen. Damit wäre eine erneute Reform oder gar eine Abschaffung der Rätestrukturen deutlich erschwert. Bevor der Präsident das Gesetz aber unterzeichnen kann, muss die Verfassungskammer des Nationalen Gerichtshofs (TSJ) über die Verfassungsmäßigkeit des Sondergesetzes entscheiden.

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