Nichts vergeben, nichts vergessen…Sonja und Christian, die seit 1978 von deutschen Bullen wegen der angeblichen Beteiligung an Aktionen der Revolutionären Zellen gesucht und vor elf Jahren in Frankreich festgenommen wurden, sind am Mittwoch, den 14.09.2011 von den französischen Behörden an Deutschland ausgeliefert worden und sitzen seitdem in Haft: Sonja in Frankfurt-Preungesheim und Christian, der haftunfähig ist, im Gefängniskrankenhaus Kassel.
Die Frankfurter Staatsanwaltschaft will Sonja und Christian den Prozess machen – Wann der Prozess beginnen wird ist bislang noch nicht klar.
Nichts vergeben, nichts vergessen …
BRD ./. RZ: Nach 30 Jahren droht Auslieferung
Am 25. Februar 2009 hat ein Pariser Gericht entschieden, dass Sonja S. (76) und Christian G. (67) an die Bundesrepublik ausgeliefert werden. (vgl. ak 537) Beide wurden seit 1978 als angebliche Mitglieder der Revolutionären Zellen gesucht und waren nach einer öffentlichen Fahndung Mitte 1978 „unbekannten Aufenthalts“. Das änderte sich im Jahr 2000.
Damals wurden Sonja und Christian in Folge einer Notaufnahme in ein Krankenhaus in Frankreich festgenommen. Nach ein paar Monaten Knast lehnte damals eine Pariser Untersuchungsrichterin die Auslieferung nach Deutschland ab, da der Haftbefehl nicht überzeugend sei. Die Richterin verwahrte sich zudem gegen die Einmischung eines angereisten Staatsanwalts, der den beiden im Falle von Aussagen eine geringe Strafe in der BRD in Aussicht stellen wollte. Christian und Sonja mussten eine Kaution von sage und schreibe 300 Euro hinterlegen und lebten seither ohne Papiere, aber geduldet, in Paris.
Das störte offensichtlich den dortigen Residenten des Bundeskriminalamtes (BKA), der Anfang 2008 anregte, das neue Instrumentarium des Europäischen Haftbefehls zu nutzen. (1) Die Staatsanwaltschaft Frankfurt hörte das Signal und verpasste dem alten Haftbefehl ein „europäisches“ Deckblatt, worauf die von Nicolas Sarkozys Auslieferungspolitik gegen baskische und italienische Flüchtlinge inspirierte französische Justiz die beiden erneut festnehmen ließ. Zwar wurden sie bald unter Auflagen entlassen – das Auslieferungsverfahren wurde aber bis zu dem Beschluss vom 25. Februar vorangetrieben. (Zurzeit läuft noch eine Beschwerde, die aber sehr ungewisse Aussichten hat.)
1977/78. In Südafrika herrscht ein Jahr nach dem Massaker von Soweto, bei dem 176 schwarze SchülerInnen und StudentInnen von der Burenpolizei erschossen wurden, blutigste Apartheid. Nelson Mandela sitzt als „Terrorist“ auf der Gefängnisinsel Robben Island. Bundesdeutsche Konzerne machen gute Geschäfte mit dem Rassistenstaat. Siemens, MAN, Leybold-Heraeus und Linde fungieren sogar als Zulieferer für Urananreicherungsanlagen und Hochleistungspumpen, obwohl im Forschungszentrum Pelindaba bei Pretoria – in Kooperation mit Israel – an Atomwaffen gearbeitet wird. In der BRD protestieren die Anti-Apartheid-Bewegung und AKW-GegnerInnen gegen die atomaren Programme.
BRD-Beihilfe für Atomwaffen Made in Südafrika
Am 22. August 1977 reißt eine Bombe bei MAN-Nürnberg ein Loch in die Außenwand, Personen werden nicht verletzt. Revolutionäre Zellen schreiben: „Der Anschlag auf MAN richtet sich gegen die Beihilfe zur Herstellung südafrikanischer Atombomben. (…) MAN exportiert Verdichter für eine Urananreicherungsanlage in Pelindabe in Südafrika. Das Materialamt der Bundeswehr versieht die Lieferungen mit NATO-Codifizierungsnummern, was für militärische Güter vorgesehen ist. Das Trenndüsenverfahren, nach dem die Anlage gebaut wird, wurde durch die staatseigene Gesellschaft für Kernforschung in Karlsruhe, die Firma STEAG in Essen und MBB (Messerschmidt-Bölkow-Blohm) in München entwickelt. (…) Die BRD-Regierung sichert die Atomgeschäfte durch Versicherungsgarantien ab (Hermes-Bürgschaften).“
Acht Tage später gibt es erneut Sachschaden, dieses Mal bei der Klein, Schanzlin & Becker AG (KSB) in Frankenthal, die laut RZ-Erklärung „als der Welt größter Pumpenhersteller eine wesentliche Rolle als Zulieferer für Kernkraftwerke in aller Welt (spielt). (Die Firma) droht den Arbeitern, die für ihre Profite schuften: Sollten sich die Störungen in der Vergabe von Kraftwerksvorhaben weiter fortsetzen, werde KSB nicht umhin können, die Belegschaft zu verringern. Mit dieser dreckigen Erpressung sollen die Arbeiter gezwungen werden, den Bau von Atomkraftwerken zu unterstützen.“
Am 18. Mai 1978 wird auf das Heidelberger Schloss ein Brandanschlag verübt. In einem offiziell wirkenden Schreiben heißt es: „Als Oberbürgermeister der Stadt Heidelberg erkläre ich, dass irgendwelche Behauptungen, ich hätte gestern Nacht im Königssaal des Heidelberger Schlosses Feuer gelegt, jeglicher Grundlage entbehren. Richtig ist vielmehr: Ich zerstörte und zerstöre Gebäude, die mir bei der Sanierung Heidelbergs im Wege stehen.“ Für diese frühe Anti-Gentrifizierungsaktion soll nach amtlicher Auffassung nicht Oberbürgermeister Reinhold Zundel (sic!), sondern eine Revolutionäre Zelle verantwortlich gewesen sein.
2009: In Südafrika ist das Apartheidregime seit 15 Jahren Geschichte, Nelson Mandela wurde vom „Terroristen“ zum Präsidenten und in Pelindaba wurden 1991 sechs einsatzbereite Atombomben unschädlich gemacht. In der BRD gibt es einen – wenn auch fragilen – Baustopp für neue AKWs und OB Zundel musste seine Abrisspolitik und die Verfolgung von HausbesetzerInnen nach 24-jähriger Amtszeit 1990 beenden.
Gegen diese Evidenz der Geschichte entscheidet der Pariser Cour d’Appell am 25. Februar 2009, dass Sonja und Christian, die seit 30 Jahren wegen dieser Anschläge gesucht werden, an die BRD ausgeliefert werden können. Anlass ist ein deutscher Haftbefehl, der trotz aller historischer Veränderungen stur aufrechterhalten wurde. Die heute zuständige Staatsanwaltschaft Frankfurt a.M. will Widerstandsaktionen gegen ein rassistisches Regime und die Atomindustrie anklagen, während die Beihilfe der BRD zur südafrikanischen Atombombenherstellung keinerlei juristische Schritte nach sich zog.
Der Haftbefehl stützt sich auf zwei hässliche und marode Pfeiler: Denunziationen eines Kronzeugen und unter folterähnlichen Umständen erlangte Informationen.
Der Kronzeuge ist Hans-Joachim Klein, Mitglied des von „Carlos“ geführten Kommandos, das 1975 die Wiener OPEC-Zentrale überfiel, ein Dutzend Ölminister als Geiseln nahm, drei Menschen tötete und danach in den Nahen Osten ausreiste. Klein wurde angeschossen, überlebte aber und schickte Ende 1976 seine Waffe und ein Anschreiben an den Spiegel, in dem er seine Abkehr vom bewaffneten Kampf und seine Weigerung, jemanden zu verraten, erklärte. In der Folge lebte er unter den Fittichen von Altspontis und Exlinken wie Cohn-Bendit in Frankreich. Sein Aufenthaltsort war aufgrund von „Rückkehr“-Verhandlungen zumindest dem Verfassungsschutz bekannt, aber festgenommen wurde er erst 1998 vom BKA.
Klein belastete umgehend mehrere angebliche RZ-Mitglieder – u.a. Sonja -, sie hätten logistische Hilfe für die OPEC-Aktion geleistet. Klein bekam 2001 vom Landgericht Frankfurt Kronzeugenrabatt und wurde wegen Geiselnahme und dreifachen Mordes zu neun Jahren Knast verurteilt, saß aber nur vier ab. Vor Kurzem wurde ihm vom hessischen Justizminister die Reststrafe auf dem Gnadenwege erlassen. Kleins Beschuldigungen wurden im Urteil des Landgerichts Frankfurt ausdrücklich als widersprüchlich und unglaubwürdig verworfen. Der Haftbefehl gegen Sonja fußt jedoch noch immer auf Kleins Beschuldigungen.
Bei allen anderen Vorwürfen bezieht er sich auf „Aussagen“ von Hermann Feiling. Ihm explodierte am 23. Juni 1978 ein Sprengsatz auf dem Schoß, der eigentlich als Protest gegen die Folterherrschaft der damaligen Militärjunta am argentinischen Konsulat in München hochgehen sollte. Herrmann verlor beide Augen und seine Beine. Im Krankenhaus wurde er sofort polizeilich bewacht, um jeglichen Kontakt mit Freunden und Bekannten auszuschließen. Abgesehen vom Klinikpersonal war er ausschließlich von StaatsschützerInnen, StaatsanwältInnen und einem Richter umgeben. Sie waren BewacherInnen, ErmittlerInnen, PflegerInnen und soziales „Umfeld“ in einem. Sie wollten die Gunst der Stunde nutzen, um „in die Revolutionären Zellen einzudringen“, wie es Generalbundesanwalt Kurt Rebmann in einer Pressekonferenz am 4. Juli 1978 formulierte.
„Belohnter Kronzeuge, erfolterte Informationen …“
Bereits am Tag nach der Explosion wurde mit „Anhörungen“ des lebensgefährlich Verletzten begonnen. Viereinhalb Monate dauerten die Befragungen, ohne Haftbefehl und ohne Anwalt seines Vertrauens. Unter Einwirkung starker Schmerzmittel und Psychopharmaka (2) hielt Hermann einen verhörenden Staatsanwalt für (s)einen Rechtsanwalt. Die Abschottung wurde in Polizeikasernen in Oldenburg und Münster bis Ende Oktober 1978 aufrechterhalten, wo weitere Vernehmungen erfolgten, obwohl Herrmann weder haft- noch vernehmungsfähig war. In seiner Prozesserklärung im September 1980 sagte er dazu: „Den jahrelang (…) frustrierten Fahndern kam mein lebensgefährlicher Zustand, die Traumatisierung nach der Erblindung, meine völlige Hilf- und Orientierungslosigkeit gerade richtig. 1.300 Seiten Vernehmungsprotokolle, die von mir stammen sollen, sind Ergebnis dieser Situation. Da werden dann auch Personen aus meiner damaligen fantastischen Traumwelt in RZ-Zusammenhänge gebracht, bzw. es werden Personen belastet, die ich nie kannte.“
Das Verfahren gegen Hermann wurde später zwar eingestellt, die menschenrechtswidrig erlangten Vernehmungsprotokolle hatten aber im Windschatten des Deutschen Herbstes Bestand: Im Prozess gegen Gerd Albartus und Enno Schwall führten sie zu Verurteilungen von fünf Jahren bzw. sechs Jahren. Heute ist dokumentierbar, welchen psychisch wirksamen Medikamenten Herrmann ausgesetzt war und heute ergibt jede wissenschaftliche Bewertung dieser posttraumatischen Extremsituation, dass Herrmanns „Aussagen“ unverwertbar waren und sind. Dass auf so eine Verhörsituation dennoch weiterhin ein Haftbefehl gestützt wird, ist so skandalös wie die CIA-Folterflüge oder die Folterdrohung des früheren Frankfurter Vize-Polizeipräsident Wolfgang Daschner gegen einen Verhafteten. (3)
Woher kommt diese Energie des deutschen Staatsschutzes, zwei GenossInnen im Rentenalter vor Gericht zu kriegen? Weil RevolutionärInnen und WiderstandskämpferInnen in Deutschland noch nie in Ruhe gelassen wurden – wäre eine schlichte, aber nicht falsche erste Antwort. Zudem hat es die Staatsschutzbehörden sicherlich gewurmt, dass Frankreichs Justiz zunächst nicht mitspielen wollte und zwei Gesuchte unter ihren Augen frei herumliefen. Wenig erfreulich dürften für eine Verfolgungsbehörde auch zwei augenfällige Beispiele dafür sein, dass man/frau einer BKA-Fahndung jahrzehntelang entkommen kann. Und ein ganz spezieller Stachel war es vermutlich, dass die Gesuchten im Gegensatz zu anderen RZ-Angeklagten ein „Deal“-Angebot abgelehnt haben. Fehlende Reue und mangelnde Kooperationsbereitschaft müssen bestraft werden, weil es sonst keine Deals bzw. keine Abschreckung mehr gäbe. Es ist ein kleiner, aber wesentlicher Verstoß gegen die Staatsräson, wenn militante Linke erfolgreich davon kommen.
Es könnte im Interesse und der Verantwortung der Anti-Apartheid- und Anti-AKW-Bewegung liegen, sich angesichts solcher Anklagepunkte einzumischen. Das Verfahren gegen Christian und Sonja zeigt auch die Bedeutung der Kritik an der Kronzeugenregelung und der Aufweichung des Folterverbots. Und sowieso sollten GenossInnen, die sich nicht beugen lassen, mit linker Solidarität rechnen können. Denn, wie schon Karl Kraus bemerkte: „Das wirkliche Verbrechen beginnt immer erst mit der Gerichtsverhandlung.“
verdammtlangquer, April 2009
Anmerkungen:
1) Im Unterschied zum bisherigen Auslieferungsrecht wird ein Europäischer Haftbefehl, der in einem EU-Mitgliedstaat ergangen ist, automatisch und ohne inhaltliche Prüfung vom ausliefernden Mitgliedsland anerkannt und die gesuchte Person ausgeliefert.
2) „Während der Vernehmungen war Feiling so erregt, dass ihm zusätzlich Valium zur Beruhigung gespritzt werden musste“, Aktenvermerk.
3) Für unter foltergleichen Bedingungen erlangte „Aussagen“ ist Savvas Xiros ein aktuelles Beispiel. Am 29. Juni 2002 explodierte eine Bombe in seinen Händen. Der Aktivist der griechischen Revolutionären Organisation 17. November (17N) wurde während seines 65-tägigen Aufenthaltes auf der Intensivstation fast erblindet und unter dem Einfluss starker Psychopharmaka verhört. Die ihm abgerungenen „Informationen“ dienten zur Verhaftung weiterer GenossInnen. Im Dezember 2003 wurde er zu sechs Mal lebenslänglich verurteilt. Richter erklärten, dass er gar nicht „festgenommen“ worden wäre. Man hätte ihn bloß mit bewaffneten maskierten PolizeibeamtInnen und GeheimdienstagentInnen „geschützt“, ein „Schutz“, bei dem ihm jeglicher Kontakt mit RechtsanwältInnen verwehrt wurde. Und da er ja (angeblich) gar nicht „festgenommen“ wurde, könnte auch keine Rede von der Inanspruchnahme der für Festgenommene verbrieften Rechte sein …