Trotz Verbot feierten eine Million Menschen am Sonntag in Diyarbakir Newroz. Eindrücke aus einer Stadt im Belagerungszustand
Von Kerem Schamberger
Auch in Ankara fand am Sonntag eine Newroz-Kundgebung statt – trotz Wasserwerfern, Tränengas und Plastikgeschossen
Foto: Reuters
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Am vergangenen Wochenende in Diyarbakir. Die Situation ist gespannt. Auf den Straßen patrouillieren Sondereinsatzkommandos der Armee, im gesamten Stadtgebiet stehen Agenten der Geheimpolizei. So sollen Newroz-Feiern vor dem 21. März, dem offiziellen Datum für das Frühjahrs- und Freiheitsfest, entsprechend einem Verbot der türkischen AKP-Regierung verhindert werden. Die kurdische Freiheitsbewegung hatte aber bereits für Sonntag zu Feierlichkeiten aufgerufen, damit so viele Menschen wie möglich teilnehmen können. So kommt es auch. Ab den frühen Morgenstunden des Sonntags finden sich Zehntausende auf dem von Polizisten umstellten Newroz-Platz ein. Sammelpunkte sind die Stadtteilbüros der kurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP), von wo es zu Fuß Richtung Festplatz geht.
Forderung nach Autonomie
Die Polizei setzt massenhaft Tränengas ein und schießt über die Köpfe der Ankommenden, die sich von allen Seiten dem Platz nähern, hinweg. Straßensperren werden von Herandrängenden überwunden, schließlich ist eine riesige Menge versammelt, die von Armeehubschraubern aus mit Tränengasgranaten beschossen wird. Die Menschen scheinen das gewohnt zu sein und haben eine eigene Abwehrtechnik entwickelt: Kaum ist eine Granate auf dem Boden gelandet, laufen viele zu der Stelle und häufen Erde darauf. Die Stimmung bleibt heiter, Frauen und Männer, Alte und Junge rufen »An Azadi, An Azadi« (kurdisch: Entweder Freiheit oder Freiheit). Der Newroz-Platz, der von der BDP-Stadtregierung ausgebaut wurde, faßt mehr als eine Million Menschen, so viele versammeln sich auch. Nur die Festbühne ist unfertig: Die Polizei hat am Vortag die gesamte Technik beschlagnahmt.
An einem Eingang zum Platz steht Özlem*. Sie ist Verkäuferin der kurdischen Tageszeitung Özgür Gündem und verteilt die neueste Ausgabe. Für sie ist Newroz das Symbol des Widerstands. Die einzige Lösung des Konflikts liege in Gesprächen mit Imrali, sagt sie. Auf dieser Gefängnisinsel im Marmarameer sitzt der Führer der kurdischen Bewegung, Abdullah Öcalan, seit mehr als zwölf Jahren in Einzelhaft. Özlem betont: »Wir wollen keinen eigenen Staat, sondern Autonomie. Das ist es, worauf es uns ankommt«.
Kein Krieg
Die Wut auf die AKP-Regierung, die jede Hoffnung auf eine Annäherung an die kurdischen Forderungen im vergangenen Jahr zunichte gemacht hat, bricht sich Bahn. In der Nähe des Platzes werden Übertragungswagen der Telefongesellschaft Turkcell in Brand gesteckt. Erzählt wird, daß der Konzern Handy-Daten an die Behörden weiterleitet. Auf vorüberfahrende Polizeiautos prasseln Steine.
Erst gegen Mittag entspannt sich die Lage, die Polizei hat sich zurückgezogen. In aller Eile werden Essensstände aufgebaut. Überall auf dem Gelände und den umliegenden Grünflächen sitzen Familien und machen Picknick. Neben einem Bild von Öcalan wird aus leeren Tränengasgranaten das Wort »Apo« geformt, die Abkürzung seines Vornamens.
Etwas abseits sitzt Hasan, ein Mitglied des BDP-Kreisvorstandes von Diyarbakir, mit seinen jüngeren Schwestern. Sein Bruder ist 2003 in die Berge zur Guerilla gegangen, im gleichen Jahr wurde Hasan zur türkischen Armee eingezogen. Er sagt im Gespräch, das kurdische Volk wolle keinen Krieg. Mit Waffen und Blutvergießen werde es keinen Frieden geben. Seine Forderung: Die Politiker sollen sich zurückziehen und die Völker miteinander reden lassen.
Das Fest wird jetzt wirklich zur Feier: Trommeln sind zu hören, die Menschen singen kurdische Freiheitslieder. Plötzlich wird deutlich sichtbar eine Fahne der SLBT-Bewegung (SLBT steht für Schwul, Lesbisch, Bisexuell, Transgender) in die Höhe gehalten und geschwenkt. Der Träger ist Mehmet, ein Student aus Istanbul. Er ist dort in der kurdischen Bewegung aktiv und arbeitet momentan daran, einen SLBT-Verein in Diyarbakir zu gründen. Das stößt auf Widerstand, aber er ist positiv gestimmt: »Die BDP arbeitet mit uns zusammen, wir wollen uns als SLBT-Bewegung innerhalb ihrer Strukturen organisieren.« Die BDP und auch die PKK akzeptierten Rechte für Schwule.
Am Nachmittag machen sich die Feiernden in einem Demonstrationszug gemeinsam auf den Weg nach Hause. Erneut attackiert die Polizei sie mit Wasserwerfern und Tränengas. Die Menschen bleiben gelassen, ihnen ist bewußt, daß sie einen wichtigen Sieg errungen haben.
* Alle Namen wurden geändert