Warnung an die türkische Regierung: Im Fall einer Intervention in Syrisch-Kurdistan werden »alle Kurden mit aller Kraft« reagieren. Ein Gespräch mit Murat Karayilan
Murat Karayilan ist der derzeitige Führer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und Exekutivratsvorsitzender des Dachverbandes der Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK), der die an Abdullah Öcalan orientierten Organisationen in allen Teilen Kurdistans zusammenfaßt
In zahlreichen kurdischen Städten in Syrien hat die Bevölkerung die Leitung übernommen. Wie ist diese Entwicklung in Westkurdistan zu verstehen?
Syrien befindet sich aktuell im Kriegszustand. Ohne auf die Aufwiegelungsversuche von unterschiedlicher Seite einzugehen, hat die kurdische Politik eine überaus organisierte, bewußte und vorausschauende politische Richtung eingeschlagen. Ohne diese Orientierung wären die kurdischen Gebiete heute vielleicht Kriegsgebiet, sie wären das Schlachtfeld anderer, und die Kurden hätten heute großen Schaden davongetragen. Das hat die kurdische Politik mit ihrem Widerstand verhindert. Der Wechsel des Regimes war gewollt. Das wurde offen gezeigt, und der Kampf entwickelt, andererseits aber wurde eine programmatische Annäherung der Opposition an die Rechte der Kurden gefordert. Als das auf Oppositionsseite nicht erkennbar wurde, hat die kurdische Politik sich in Syrien und in der eigenen Bevölkerung als Vertreterin einer dritten Linie und als kämpfende Kraft etabliert. Sie hat eine politische Linie verfolgt, mit der die demokratische Autonomie des kurdischen Volkes in einem demokratischen Syrien verteidigt und generell die Festsetzung eines eigenen Status für das kurdische Volk gefordert wird.
Die kurdische Bevölkerung greift nicht an, hat sich aber durch die notwendige Organisierung die Fähigkeit angeeignet, sich bei einem Angriff zu verteidigen. Das ist einer der wesentlichen Gründe dafür, daß ihr eine wichtige Rolle in der Politik Syriens zukommt. In einer solchen Phase, in der nun das Regime nach und nach zerfällt, die Opposition die Kleinstädte und Städte übernimmt, haben parallel dazu die Kurden erst die Administration in Kobanî (Ain Al-Arab), dann die in Afrîn, anschließend in Amûde und in Derîk übernommen. Mit der Ankündigung »Wir werden uns hier selbst verwalten« haben sie einen wichtigen Schritt getan. Das ist natürlich eine revolutionäre Situation, die Phase der Befreiung des kurdischen Volkes von hundert Jahren Unterdrückung und Gewalt und des Erreichens von Selbstverwaltung, Kraft und Freiheit.Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat mit seiner Äußerung »Wir akzeptieren keinen Aufbau unter PKK/PYD-Führung« (PYD – Partei der Demokratischen Einheit, syrisch-kurdische Schwesterpartei der PKK) eine eventuelle Intervention angedeutet. Wie bewerten Sie solche Erklärungen?
Wenn Syrien eine revolutionäre Phase durchlebt, werden die Kurden natürlich davon profitieren. Welchen Grund gäbe es für die rückständige und ahistorische Forderung, alle sollten profitieren, nur die Kurden sollen beim alten bleiben? Nur einen Grund: Feindschaft gegenüber Kurden. Wenn alle ihre lokale Verwaltung, die staatlichen Organe dort selbst in die Hand nehmen, dann tun es die Kurden auch. Aber nein, heißt es, hier gäbe es die PKK und die PYD, und eine PYD-/PKK-Führung würden sie nicht erlauben. Es gibt dort nicht eine Organisation oder Institution, sondern dort ist das Volk, eine Gesellschaft, und dieses Volk geht zu Hunderttausenden auf die Straße und nimmt die Staatsorgane in die eigene Hand. Und das nicht mit dem Ziel, sich von Syrien abzutrennen, sich mit einer anderen Region zu vereinen oder einen eigenen Staat zu gründen. Keine einzige politische Organisation in diesem Teil Kurdistans hat sich in dieser Richtung geäußert. Es wurde nur gesagt, das Recht auf Selbstverwaltung in einem einheitlichen Syrien werde genutzt und vor diesem Hintergrund die Selbstverwaltung aufgebaut. Die PYD, mit der ein Großteil der Bevölkerung sympathisiert oder ihr als Mitglied angehört, ist das größte gesellschaftliche politische Gefüge in Westkurdistan.
Und zudem haben sich alle Kurden in Westkurdistan zusammengeschlossen und eine gemeinsame Organisation geschaffen. Der Ministerpräsident (Erdogan) sagt: »Der Kurdische Hohe Rat vertritt nicht das kurdische Volk.« Es ist offensichtlich, daß er dasselbe, was er über die BDP (prokurdische Partei für Frieden und Demokratie in der Türkei) im Norden sagt, auch über die PYD sagt. Und das außerdem noch über den Kurdischen Hohen Rat in Syrien zu behaupten – eine gemeinsame Organisation aller kurdischen politischen Gruppen –, zeugt offen gesagt von einer voreingenommenen, auswendiggelernten und feindseligen Einstellung. Wollt ihr bestimmen, wer das kurdische Volk zu vertreten hat? Das bestimmt nicht ihr, sondern die Bevölkerung. Der Ursprung liegt darin, daß die Türkei ihre eigene Kurdenfrage im Land nicht lösen kann. Die Türkei diskutiert aktuell darüber. Wenn sie wirklich zu einem demokratischen Land werden will, wenn sie in der Region eine Rolle spielen will, dann muß sie zunächst von diesen Vorurteilen in der Kurdenfrage, von ihrer nationalistisch-rassistischen Politik und von der Nichtanerkennung der Rechte des kurdischen Volkes abkommen. Sie kann sich nur so vor ihrer Kurdenphobie retten. Sie muß zunächst einmal das kurdische Volk als solches anerkennen.Aber die türkische Seite nennt als Interventionsgrund ständig die Existenz der PKK in der Region, oft sogar, daß Sie Ihre bewaffneten Militanten nach Westkurdistan schicken …
Die Kurden in allen Teilen (Kurdistans) haben gemeinsame nationale Anführer. In jedem sehen sie für sich, egal, wo sie leben, eine nationale Führung, aber in jedem Teil gibt es eigene Parteien, Organisationen und Aktivitäten. Auch in Westkurdistan gibt es unterschiedliche Parteien, und die haben unterschiedliche Führungsleute, die für sich genommen als Anführer betrachtet werden können und auch so gesehen werden. Aber ein sehr großer Teil unseres Volkes in diesem Teil betrachtet Abdullah Öcalan als nationale Führung. Sie haben seine Anstrengungen gesehen und waren Zeugen seiner Arbeit, und sie kennen ihn aus nächster Nähe. Aber sie haben eigene Parteien, eigene zivilgesellschaftliche Institutionen, und es gibt die gesellschaftliche Realität. Dies ist Fakt, aber wir haben dort als PKK keinerlei Aktivitäten oder irgendeine Kraft.Die türkische Presse und die Vertreter des türkischen Staates versuchen, die Übernahme der staatlichen Institutionen durch die Bevölkerung im Kern so darzustellen, daß »Assad die regionale Macht an die PYD übergibt«. Wie bewerten Sie das?
Das ist eine einzige Verleugnung und eine regelrechte Schlammschlacht. Zum einen ist die PYD seit 2004 die Organisation, die Syrien und die Türkei gemeinsam am meisten bekämpfen. Es haben schon so viele Mitglieder der PYD durch Folter ihr Leben verloren. Wir wissen und sehen, daß die PYD seit Jahren eine Widerstand leistende Bewegung ist. Auch sind etliche Gebiete nach Kämpfen eingenommen worden. Die PYD hat Gefallene, und auch die Gegenseite verzeichnet Tote. Mag sein, daß sich der syrische Staat nicht mit aller ihm politisch zur Verfügung stehenden Macht der PYD widmet. Aber wie ich schon darauf hingewiesen habe, auch die Kurden halten es in ihrem Interesse nicht für richtig, mit aller Macht und um jeden Preis gegen das Regime einen Krieg zu führen. Das stimmt. Aber das ist auch kein Punkt, der nur die PYD betrifft, sondern er betrifft alle Kurden. Ganz klar ist, es wurde gekämpft, Widerstand geleistet und in der Phase des Zusammenbruchs die regionale Führung übernommen. Das ist ein Ergebnis der Mühen, die unsere Bevölkerung erbracht hat.Wie werden Sie sich verhalten, wenn die Türkei oder eine andere Macht in Westkurdistan einen Angriff beginnt, der gegen die bisherigen Errungenschaften des Volkes gerichtet ist?
Wenn die Türkei auf irgendeine Art und Weise in Westkurdistan, also in Syrisch-Kurdistan, eingreift, dann wird damit der Geduldsfaden des kurdischen Volkes zerrissen. Wenn ein Staat, der im eigenen Land dermaßen viele kurdische Politiker verhaftet, der seit mehr als einem Jahr die Führungsperson des kurdischen Volkes total isoliert und systematische Folter anwendet, der gegen die Kurden im Norden regelrecht Krieg führt, wenn dieser Staat die Grenzen überschreitet und das Volk in Westkurdistan angreift, dann wird dies das kurdische Volk nicht nur in Westkurdistan, sondern in allen Teilen Kurdistans zum Krieg gegen den türkischen Staat veranlassen. Was Palästina seinerzeit für alle Araber war, das ist heute für alle Kurden Syrisch-Kurdistan. Daher sollten das gegenwärtige syrische Regime, die syrische Opposition und der türkische Staat besonders beachten: Ein Angriff auf das Recht des kurdischen Volkes in Westkurdistan, das nur eine kleine Minderheit ist, auf Selbstverwaltung und auf seine natürlichen Rechte in einer demokratischen Gemeinschaft Syrien bedeutet Feindschaft, und alle Kurden werden mit aller Kraft gegen diesen Angriff zu Felde ziehen. Daher sollte jeder, der angreift – denn von Zeit zu Zeit sehen wir, daß einige Kräfte und das Regime die dortigen Kurden verunglimpfen –, wissen, daß unsere Leute dort nicht allein sind.