Interview zur Karawane der Anatolischen Föderation

 

Gül ist Mitglied in der migrantischen Organisation Anatolische Föderation und war an der Karawane „Freiheit für alle politischen Gefangenen“ beteiligt, mit der die Forderung nach der Freilassung von fünf Mitgliedern des Vereins, die in der Bundesrepublik nach dem politischen Strafrechtsartikel 129b verfolgt werden, unterstützt wurde. Im Hamburger Zentrum der Anatolischen Föderation beantwortete Gül dem Schattenblick einige Fragen zu den Umständen und Beweggründen ihres politischen Kampfes.

Schattenblick: Aus welchen Gründen wird die Karawane durchgeführt?

Gül: Bei der Karawane geht es im besonderen um den Paragraphen 129b. Wir wollen erreichen, daß er auf breiter öffentlicher Basis diskutiert wird und die Leute wissen, worum es dabei geht und wozu er verwendet wird. Schließlich sitzen einige unserer Genossen wegen dieses Paragraphen im Gefängnis. Wir haben erfahren müssen, daß selbst manche Politiker nicht wußten, was es mit dem Paragraphen 129b auf sich hat. Möglicherweise hat es sie auch nicht interessiert, weil sie davon nicht betroffen sind, aber es betrifft uns. Wir ziehen jetzt zum dritten Mal mit der Karawane durch Deutschland, um zum einen für die Freilassung unserer politischen Gefangenen zu demonstrieren und zum anderen für eine stärkere öffentliche Wahrnehmung der durch den Paragraphen 129b bedingten Repression für alle politisch aktiven Migrantinnen und Migranten zu sorgen.

SB: Was wird den politischen Gefangenen im einzelnen vorgeworfen?

G: Im Grunde, daß sie Unterstützer einer verbotenen terroristischen Organisation sein sollen, die einen bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat führt.

SB: Und wofür werden sie aus eurer Sicht tatsächlich angeklagt? 

G: Sie haben gemacht, was wir auch machen, nämlich an Kundgebungen und Demonstrationen für die Menschenrechte teilzunehmen und Konzerte einer linksgerichteten Musikgruppe zu organisieren. Dabei geht es gar nicht immer um die Türkei. So waren wir auch an der Lampedusa-Demonstration beteiligt.

SB: Eigentlich sollten diese demokratischen Rechte jedem hier in Deutschland zustehen.

G: So steht es auch im Gesetz. All unsere Kundgebungen waren legal und angemeldet. Daß wir kriminalisiert werden, liegt nicht zuletzt an der Türkei, die die deutschen Behörden auffordert, türkische Oppositionelle hier in Deutschland festzunehmen. Dies, weil Deutschland und die Türkei auf polizeilicher und geheimdienstlicher Ebene eng zusammenarbeiten.

SB: Wie erklärst du dir die Zusammenarbeit zwischen der türkischen und deutschen Regierung?

G: Im Grunde stehen wirtschaftliche Interessen hinter der Zusammenarbeit. Wenn Deutschland den türkischen Sicherheitsbehörden einen Dienst erweist, kann die deutsche Regierung im Gegenzug die guten Beziehungen der Türkei zu deren Anrainerstaaten dazu nutzen, deutsche Wirtschaftsinteressen im Nahen Osten leichter durchzusetzen.

SB: Aus deutscher Sicht sind bilaterale Verhandlungen mit der Türkei sehr zwiespältig. Einerseits ist die Türkei NATO-Mitglied und unterhält wirtschaftliche Beziehungen zu Europa, andererseits sträubt sich die deutsche Regierung dagegen, die Türkei als gleichberechtigten Partner in die EU aufzunehmen. Wie erklärst du dir diese widersprüchliche Haltung?

G: Das ist nur das, was wir sehen und hören. Kanzlerin Merkel wiederholt zwar gerne, daß die Türkei noch nicht bereit wäre, der EU beizutreten, was aus meiner Sicht auch stimmt, aber hinter den Kulissen findet ungeachtet dessen eine Zusammenarbeit statt. Vielleicht sind sich Merkel und Erdogan in vielen politischen Fragen uneins, aber dennoch kann es sich Merkel im Interesse der deutschen Wirtschaftspolitik nicht leisten, die Türkei als potentielles EU-Mitglied zu verprellen.

SB: Wie beurteilst du die aktuelle Politik in der Türkei unter Erdogan?

G: Dafür habe ich nur ein Wort: Korrupt!

SB: War es denn früher anders gewesen?

G: Nein, aber es wurde jetzt endlich öffentlich, nachdem Hacker einige Tonmitschnitte ins Netz gestellt haben, auch wenn Erdogan weiterhin behauptet, daß alles bis auf zwei Telefonate, die er zugegeben hat, erfunden und erlogen sei.

SB: Unter der AKP-Regierung werden tiefe Eingriffe in die Lebensführung der Menschen geplant. Erwächst dadurch nicht eine tiefe Empörung gegen Erdogans Regierungsstil in der Bevölkerung?

G: Erdogan sagt, 50 Prozent der Menschen in der Türkei sind für mich, die anderen 50 Prozent sind es noch nicht. Der Mann will tatsächlich entscheiden, wieviel Kinder eine Frau auf die Welt zu bringen hat. Gestern hat er Twitter in der Türkei geschlossen. In dieser Sache stehen noch einige Prozeßtage vor Gericht an. Danach wird Twitter wahrscheinlich wieder geöffnet.

SB: Wie steht es um die politischen Gefangenen in der Türkei? Aufgrund der jüngsten Unruhen sind derzeit Menschen aus allen Bevölkerungsschichten in türkischen Gefängnissen inhaftiert.

G: Es ist wirklich traurig, aber die Türkei ist das einzige Land, das eine Zeitung aus dem Knast herausbringt, weil viele Journalisten und Intellektuelle inhaftiert sind. Daß in der Türkei gefoltert wird, wissen viele. Auch einige unserer Genossen, die aus der Türkei nach Deutschland gekommen sind, wurden dort gefoltert. Erdogans Sicherheitschef war einer dieser Folterer. Ein Genosse von uns, der von ihm gefoltert wurde, hat darüber live im türkischen Fernsehen berichtet.

SB: Wie beurteilst du die aktuelle Stimmung in der türkischen Bevölkerung? Gibt es eine breite Zustimmung für die repressiven Maßnahmen der Regierung Erdogan oder mehren sich die kritischen Stimmen und Gegenbewegungen dazu in der Gesellschaft?

G: Sicherlich gibt es Menschen, die eine starke Hand vom Staat fordern. Das eigentliche Problem besteht jedoch darin, daß Politik und Religion immer stärker miteinander verwoben werden. So braucht Erdogan nur zu sagen, ich mache dies und das im Namen Allahs, und selbst wenn er vor den Augen der Leute Verbrechen begehen würde, wären sie so benebelt von seiner Rhetorik, daß sie es nicht merken würden.

SB: Die Türkei hat in den letzten Jahren ein großes Wirtschaftswachstum erzielt, wenngleich es im Moment wieder rückläufig ist. Könnte ein Grund für seine Überzeugungskraft darin bestehen, daß sich die Leute sagen, egal, welche Regierung wir haben, Hauptsache der Lebensstandard steigt?

G: Die Wirtschaftslage hatte sich aus verschiedenen Gründen verbessert, aber das lag nicht an Erdogan. Aber die Leute glauben dennoch, daß er die Wirtschaft angekurbelt habe. Deshalb haben sie ihn ein zweites Mal gewählt in der Hoffnung, daß er noch mehr für das Land schafft. Es ist halt so, daß alle Menschen in Luxus leben wollen.

SB: Erdogan hat anfangs auch das Versprechen gegeben, die Kurdenfrage auf friedlichem Wege lösen zu wollen. Wie beurteilst du heute das Verhältnis von Türken und Kurden?

G: Es wird oft vergessen, daß viele Kurden durchaus zu Erdogan stehen, vor allem die strenggläubigen. So behauptet Erdogan auch immer wieder, daß seine Frau Kurdin wäre. 2009 ließ er einen TV-Sender durch die Türkische Rundfunk- und Fernsehanstalt TRT freischalten, wo auf kurdisch gesprochen und gesungen wird, was früher verboten war. Ich kann mich noch erinnern, daß wir als Kinder kein Kurdisch auf der Straße sprechen durften, weil wir Angst hatten, verprügelt zu werden. Meinen Brüdern ist das passiert. Weil sich die Kurden jetzt ein eigenes Fernsehprogramm zusammenstellen können, denken sie, daß Erdogan nichts gegen Kurden hat. Deshalb unterstützen sie ihn.

SB: Die Türkei konnte unter Erdogan eine Zeitlang außenpolitische Erfolge feiern wie die Friedensdiplomatie mit dem Iran und der regionale Zusammenschluß mit den Nachbarstaaten. Inzwischen ist die Türkei auf Kriegskurs gegen Syrien eingeschwenkt. Wie beurteilst du aus Sicht einer linken Aktivistin die türkische Außenpolitik gegenüber Syrien?

G: Syrien ist kein politisches Streitthema, sondern dort eskaliert der Konflikt zwischen Aleviten und Sunniten. Erdogan steht auf der Seite der Sunniten. Deswegen fliehen die sunnitischen Syrer vor dem Bürgerkrieg an die türkische Grenze, und Erdogan gewährt den Glaubensbrüdern und -schwestern Schutz. Einmal mehr benutzt er den Glauben für seine politischen Ziele.

SB: Wie wichtig ist die Religionskarte wirklich, die heutzutage sehr hochgespielt wird, um den Eindruck zu erwecken, es gäbe zwischen Sunniten, Schiiten und Aleviten uralte, ungelöste Konflikte, die letzten Endes die alleinige Schuld an den bewaffneten Auseinandersetzungen trügen?

G: Im Grunde vertragen sich die Menschen der verschiedenen Religionen, aber die Herrschenden haben ein Interesse daran, daß sich Sunniten, Schiiten und Aleviten bekriegen. Ich selbst komme aus einer Alevitenfamilie. Meine Eltern haben mir beigebracht, daß ich mich anderen Religionen gegenüber respektvoll zu verhalten habe. Ich denke, es ist eine Sache der Erziehung.

SB: Bekommt ihr in Hamburg Resonanz aus der Politik zur Karawane oder werdet ihr eher in Ruhe gelassen?

G: Wir werden tatsächlich in Ruhe gelassen. So habe ich mit der Bitte um einen Termin zur Übergabe der Petition in der Hamburger SPD-Zentrale angerufen, aber dort sagte man mir gleich, daß unsere Ideologien nicht zusammenpaßten. Ich habe es auch bei der Partei Die Linke versucht, aber bis auf Christiane Schneider ist niemand darauf eingegangen. Wir hatten auch während der beiden vorangegangenen Karawanen bei Frau Schneider angefragt, und sie hat uns beide Male empfangen.

SB: Bei den Protesten im Gezi-Park haben Menschen, die angeblich Todfeinde sind und sich am liebsten gegenseitig umbringen würden, Schulter an Schulter gestanden und für eine gemeinsame Sache gestritten. Wie hast du das empfunden?

G: Das war wunderschön. Ich möchte dazu eine Geschichte erzählen, die verdeutlicht, daß Solidarität auch unter Menschen mit ganz verschiedenen Hintergründen und Zugehörigkeiten möglich ist. Unter den Protestierenden waren auch gläubige Moslems, und als die Zeit zum Beten kam, haben die Kommunisten, die ja Atheisten sind, einen Kordon um die Betenden gebildet, um sie im Falle des Anrückens der Polizeikräfte zu schützen. Dieses Bild wurde im Fernsehen ausgestrahlt als Beispiel dafür, daß solidarisches Handeln funktionieren kann. Wenn die Proteste im Gezi-Park länger als einen Monat angedauert hätten, wäre die Türkei vielleicht schon jetzt ein anderer Staat.

SB: Die Proteste könnten ein Modell dafür sein, wie Menschen zusammenleben und Widersprüche gemeinsam anpacken können, ohne daß unterschiedliche Ansichten oder Lebensläufe ein grundlegendes Hindernis sein müssen. Daß Gläubige und Kommunisten trotz ihrer weltanschaulichen Differenzen etwas zusammen machten, stimmt zumindest hoffnungsvoll.

G: Ja, viele Leute, die früher aus Angst nicht auf die Straße gegangen sind, auch wenn ihnen Unrecht getan wurde, sind jetzt nicht mehr ängstlich und demonstrieren für ihre Rechte. Sie sind nicht mehr bereit, alles herunterzuschlucken und auszuhalten, weil sie die Erfahrung im Gezi-Park gemacht haben, daß sie nicht alleine sind.

SB: Meinst du, daß die Gezi-Park-Bewegung nicht vorbei ist, weil die Menschen dazugelernt haben und die positive Erfahrung solidarischen Zusammenhalts nicht wieder aufgeben wollen?

G: Auf jeden Fall. Ich glaube, es fehlt nur noch ein Tropfen, damit die Leute begreifen, daß sie das Unrecht und die Korruption nicht ertragen müssen und die Gesellschaft nachhaltig verändern können. Daß Menschen dabei umgekommen sind, tut mir sehr leid. Sie sind inzwischen zu einem Symbol geworden, weil sie für nichts und doch für so vieles gestorben sind. Ihr Tod ist traurig und doch heldenhaft gewesen. Erdogan sagte immer wieder, daß er nicht begreifen könne, daß so viele Menschen wegen ein paar Bäumen auf die Straßen gehen. Im Gezi-Park ging es nicht nur um Bäume. Als der fünfzehnjährige Berkin Elvan seinen Verletzungen schließlich erlag, begleiteten über zwei Millionen Menschen den Leichenzug.

SB: Die Bäume stellen ein Symbol dar für den gigantischen Stadtumbau, der geplant war und viele Armenviertel der Abrißbirne geopfert hätte.

G: In dem Istanbuler Stadtviertel Kücük Armutlu kämpfen die Anwohner seit fast 15 Jahren gegen die Gentrifizierungspläne der Stadtverwaltung. Kücük Armutlu ist ein hochgelegenes Armenviertel, von dem man einen wunderschönen Ausblick auf das Meer hat. Dort will die Stadt Häuser für eine gutbetuchte Klientel bauen lassen, aber die Menschen dort lassen seit 15 Jahren niemanden mehr in ihr Viertel rein und halten nachts abwechselnd in Zelten Wache. Wenn der Umbau durchgesetzt würde, müßten die Armen wegziehen, aber sie können sich anderswo in Istanbul keine Wohnung leisten.

SB: Wie nehmen hier in Deutschland lebende Menschen aus der Türkei diese zum Teil drastischen Veränderungen wahr?

G: In der Regel werden nur extreme Ereignisse wie die Proteste im Gezi-Park als beunruhigend wahrgenommen. Als Berkin Elvan gestorben ist, haben wir in Hamburg Flugblätter verteilt, um an die Gründe seines Todes zu erinnern, aber die Leute ließen das nicht an sich heran. Die Distanz zum Heimatland, vor allem bei den Jüngeren, ist zu groß.

SB: Wie war die Reaktion auf die Karawane, die am 18. März in Köln vor dem Verfassungsschutz begann, und heute in Hamburg Station macht?

G: Ich kann nur für die beiden ersten Karawanen, bei denen ich mit dabei war, sprechen. Es gab gute und schlechte Reaktionen. In Magdeburg wurden wir die meiste Zeit mit „Scheiß-Ausländer, geht doch in euer Land zurück“ und ähnlichem beschimpft. So etwas ist uns in Städten, in denen viele Rechtsradikale leben, oft begegnet. Im allgemeinen haben wir jedoch positive Erfahrungen gemacht. Viele Leute waren verwundert, daß wir die Strapazen der Karawane auf uns nahmen, aber sie hatten Respekt davor.

SB: Haben die Leute nach dem Grund eurer Karawane gefragt?

G: Wenn ein paar rote Gestalten auftauchen, gibt es natürlich immer Leute, die nachfragen, was wir machen und worum es dabei geht. Aber viele haben Angst, wenn sie auf unseren Regenjacken „Freiheit für alle Politischen Gefangenen“ lesen. Möglicherweise schreckt es sie ab, so daß sie sich nicht mehr trauen, uns anzusprechen. Aber wenn wir selber auf sie zugehen und ihnen unsere Absicht erklären, dann scheinen viele Interesse daran zu haben.

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