Erneut geht einem großen Terroranschlag in einer westlichen Metropole eine passende Notfallübung unmittelbar voraus. Bloß ein Zufall?
Der Guardian zitierte am Sonntag den in Frankreich bekannten Notarzt Patrick Pelloux, der nach den Pariser Anschlägen im Krankenhaus Verletzte behandelt hatte, mit den Worten:
„Unmittelbar, nachdem ich von den Freitagabend stattgefundenen Anschlägen erfahren hatte, eilte ich in die Notaufnahme. Tatsächlich hatten die Pariser Notfallkräfte an jenem Morgen eine Übung für einen großen Terroranschlag durchgeführt. Wir waren gut vorbereitet.“
Gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Radiosender France Info hatte Pelloux gleichen Sinnes erklärt, dass medizinische Notfallkräfte am Morgen in Paris eine Übung abgehalten hätten, bei der es um fiktive Anschläge an mehreren Orten gegangen sei. Auch Polizei und Feuerwehr seien in die Übung eingebunden gewesen.
Thomas Loeb, ein weiterer Notarzt, war an dieser Übung direkt beteiligt. Er berichtete, dass das Szenario am Freitagmorgen von einer „bewaffneten Gruppe“ ausgegangen sei, welche fiktive Anschläge „an mehreren Orten in Paris“ verübt hätte. Also genau das, was im Laufe desselben Tages dann so auch tatsächlich geschah.
Nun wäre der Umstand einer solchen einzelnen Übung für sich genommen noch als bizarre Zufälligkeit erklärbar. Wesentlich komplexer wird die Situation jedoch dadurch, dass auch anderen großen Terroranschlägen in westlichen Metropolen in den vergangenen Jahren solche präzise passenden Notfallübungen unmittelbar vorausgingen – was bis heute nur wenig bekannt ist.
Beispiel London 2005: Auch die verheerenden Terroranschläge auf das Londoner U-Bahn-System am 7. Juli 2005 wurden durch eine Übung am gleichen Tag vorweggenommen. Der Sicherheitsexperte Peter Power erklärte damals im britischen Fernsehen, man habe am Morgen des Tages zeitgleich zum Anschlag eine Krisenübung durchgeführt, deren Szenario dann plötzlich Realität geworden sei. Mit der Übung sei seine Sicherheitsfirma „Visor Consultants“ betraut gewesen. Es sei darin um „simultane Bombenanschläge auf U-Bahn-Stationen“ gegangen – also genau das, was am gleichen Tag dann auch in der Realität geschah.
Beispiel 9/11: Die Flugzeugentführungen vom 11. September 2001 ereigneten sich während einer Militärübung, bei der genau das geübt wurde, was am gleichen Morgen real geschah: Entführungen von Passagiermaschinen im Luftraum der USA. Die damals Beteiligten konnten sich an die Übung mit dem Namen „Vigilant Guardian“ (Wachsamer Beschützer) auch später noch gut erinnern. Major Kevin Nasypany etwa, einer der leitenden Offiziere der Luftverteidigung an jenem Morgen, rekapitulierte später seine erste spontane Reaktion, als man ihm eine Entführung gemeldet hatte: „Da hat jemand etwas vorverlegt. Die Flugzeugentführung soll doch erst in einer Stunde sein.“ Die zuständigen Offiziere hielten die Realität also wegen der Ähnlichkeit zunächst für einen Teil der geplanten Übung.
9/11 ist in dieser Aufzählung ein spezielles und komplexeres Ereignis, weil es sich bei der damaligen Übung um ein Militärmanöver handelte, das den Einsatz und die Koordinierung von Kampfflugzeugen durchspielte. In London 2005 und bei den Pariser Anschlägen vom vergangenen Wochenende aber geht es beide Male um zivile Notfallübungen von Ärzten und Rettungskräften. Ergebnis war in beiden Fällen eine Schadensbegrenzung, da die Helfer durch die Übungen, so gut es nur ging, auf das Kommende vorbereitet waren. Sie konnten durch die Übung mehr Menschen besser helfen.
Wer angesichts dessen nicht mehr an Zufall glauben mag, der könnte nun fragen, welcher Kreis von Tätern oder auch von potenziellen Mitwissern und Mitplanern Interesse an einer solchen kalkulierten Schadensbegrenzung haben könnte. Da eine solche Frage den Blick auf abgründige Antworten zulässt, darf vermutet werden, dass sie in größerem Rahmen nicht erörtert werden wird.
Generell stellt sich bei Terroranschlägen durch radikale Gruppen die Frage, wie unabhängig diese agieren (können). Berichten zufolge war zumindest einer der Pariser Täter den französischen Geheimdiensten bekannt, die ihn aber angeblich 2013 wieder aus den Augen verloren. Der Haupttäter der Londoner Anschläge von 2005 wiederum war britischen Diensten bekannt, die dann ebenso, offiziellen Angaben zufolge, seine Spur verloren hatten.
Die enge Überwachung der mit den Anschlägen von 9/11 verknüpften „Al Qaida“-Zelle durch US-Geheimdienste im Vorfeld des 11. September 2001 (Operation „Able Danger“) wurde erst Jahre später im größeren Umfang bekannt Auch die spanische Zelle hinter dem großen Anschlag von Madrid 2004 sowie die deutsche Sauerlandzelle 2007 (Ferngelenkte Terroristen?) waren von V-Leuten und Spitzeln durchsetzt. In beiden Fällen wurden Bombenzünder erst durch Geheimdienstleute geliefert.
Daraus nun eine simple Umkehrung – „der Westen war’s“ bzw. „die Geheimdienste sind schuld“ – zu folgern, wäre dennoch zu simpel. Wenn man aus den Ereignissen der vergangenen Jahre etwas lernen kann, dann eher, dass das personelle Geflecht zwischen Terrorgruppen und Geheimdiensten zwar enger ist, „als die Polizei erlaubt“, dass alle Beteiligten aber dennoch durchaus versuchen, ihr eigenes Süppchen zu kochen.
Der Knackpunkt ist die behauptete Autonomie der entsprechenden Terroristen, von deren Planungen niemand etwas gewusst haben will. Die wiederholte Gleichzeitigkeit von Notfallübungen und Terroranschlägen stellt diese Behauptung nachdrücklich in Frage – oder sie muss tatsächlich ein Zufall sein.
Update aufgrund eines Leserhinweises:
Auch den Breivik-Anschlägen in Norwegen 2011 ging eine „fast identische“ Übung am gleichen Tag voraus, wie die führende norwegische Tageszeitung „Aftenposten“ berichtete (englische Übersetzung hier): „Am 22. Juli, nur Stunden bevor Anders Behring Breivik damit begann, Jugendliche auf Utoya zu erschießen, beendeten Spezialkräfte der Polizei eine Übung mit fast identischem Szenario.“
Der Zeitung zufolge bestätigten leitende Beamte der Osloer Polizei, dass die Übung am Nachmittag des gleichen Tages, an dem das Attentat stattfand, beendet wurde. Das Szenario der Übung damals: Einer oder mehrere Attentäter würden versuchen, soviele Menschen wie möglich zu erschießen. Polizeiangaben zufolge wurde dieses Szenario „mehrmals pro Jahr“ trainiert. Die Gleichzeitigkeit sei ein Zufall.
Paul Schreyer, 17.11.2015, telepolis