Ein Diskussionsbeitrag als Antwort auf die Texte des Roten Aufbau Hamburg „Weder Covidioten noch „Systemlinge“ – Für revolutionäre Gegenmacht!“ und „Impfpflicht, Solidarität und Vergesellschaftung“
1. Vorneweg
2. In eigener Sache
Teil I:
3. Etwas Grundlegendes zur Gesundheit
3.1 Die Frage nach der Klasse
3.2 Zum Kleinbürgertum
3.3 Kein Schulterschluss der Linken mit der herrschenden Ordnung!
Teil II:
4. Wer ist da auf der Straße?
4.1 Sind Querdenken- und Montagsdemonstrationen in Ostdeutschland das Gleiche? 4.2 Querdenken
4.3 Montagsdemonstrationen
5. Bewegung kommt von »bewegen«
1. Vorneweg
Kürzlich erschien ein Beitrag des Roten Aufbaus Hamburg mit dem Titel „Weder Covidioten noch „Systemlinge“ – Für revolutionäre Gegenmacht!“. Gleich zu Beginn wird deutlich gemacht, an wen dieser Beitrag adressiert ist: An Linke, die „sich aktuell an den Protesten von Querdenkern und anderen Strukturen“ beteiligen. Da wir als politische Gruppe auf einer Montags-Demonstration in Magdeburg eine Aktion durchgeführt haben – diese auch als einzige von den beteiligten Strukturen offen verteidigen – möchten wir gern einen solidarischen Beitrag in die Diskussion einbringen.
Unseren Beitrag haben wir in zwei Teile aufgeteilt: Im ersten Teil gehen wir grundlegend auf Fragen zur Gesundheit und zur Klasse ein. Im zweiten Teil möchten wir auf die Entwicklungen der Montags-Demonstrationen in Magdeburg blicken. Wir machen deutlich, dass wir als eine klassenkämpferische Linke eine differenzierte Haltung zu den stattfindenden Protesten einnehmen sollten. Damit werden wir uns der Frage nähern, welche Position KommunistInnen in der aktuellen Pandemie einnehmen könnten. Außerdem scheint es angesichts der Hilflosigkeit und Staatshörigkeit der Linken gegenüber der Coronapandemie- und Politik mehr als nötig, über die eigene Analyse und Praxis selbstkritisch zu diskutieren.
2. In eigener Sache
Zusammen Kämpfen Magdeburg gibt es seit 15 Jahren. Zum Teil mehr als 20 Jahre kämpfen unsere GenossInnen gegen Faschisten in dieser Stadt. Seit Beginn der Corona-Pandemie setzen wir uns mit sozialen Auswirkungen auseinander, die diese Krise mit sich bringt. Zu Beginn des Lockdowns im März 2020 organisierten wir unmittelbar eine unangemeldete Kundgebung gegen Ausgangsverbote. Darauf folgte im Juni 2020 eine Kundgebung für ein solidarisches Gesundheitssystem.
Daneben organisierten wir die Kampagne „Geschichten von unten – was die ‚Corona-Krise‘ für unsere Klasse bedeutet“. Bereits zu Beginn der Pandemie wiesen wir in einer ersten Erklärung auf den damit verbundenen Klassenkampf von oben hin. Seit Inkrafttreten des ersten Lockdowns haben wir eine solidarische Nachbarschafts-Hilfe ins Leben gerufen, welche bis heute aktiv und im Stadtteil angekommen ist. So entstand auch ein Podcast zur solidarischen Nachbarschaftshilfe, weil interessierte Journalistinnen im Stadtteil darauf aufmerksam geworden sind. Zusätzlich beteiligen wir uns konkret an einer selbstorganisierten Lebensmittelverteilung, welche wöchentlich von ca. 50 Menschen genutzt wird und sogar im Verfassungsschutz Bericht Erwähnung fand. Als am Anfang der Pandemie die Tafeln schlossen, konnten wir rund 100 Menschen wöchentlich mit notwendigen Lebensmitteln versorgen. Wir sind uns von Anfang an der Auswirkungen der Pandemie auf unsere Klasse nicht nur theoretisch bewusst – wir erleben sie auch in unserer politischen Praxis im Stadtteil und ganz konkret an unseren eigenen Arbeits- und Lebensbedingungen. Eine proletarische, selbstorganisierte Hilfsstruktur wurde aufgebaut, welche auch von NachbarInnen mitgetragen wird.
Ein Großteil unserer GenossInnen arbeiten in medizinischen, pflegerischen und anderen sozialen Berufen und standen in den Arztpraxen als Impfhelfer sozusagen an „vorderster Front“. Die AktivistInnen unserer Gruppe sind alle geimpft. Wir haben in unserem sozialen Umfeld aktiv fürs Impfen geworben und Mitmenschen zur Impfung geraten. Trotz dessen verstehen wir das Misstrauen der Menschen gegenüber den Pharmakonzernen, den Corona-Maßnahmen und insbesondere gegenüber der Impfpolitik und verurteilen vor allem niemanden, der eine Impfung aus welchen Gründen auch immer verweigert.
Wir als Zusammen Kämpfen nehmen das Coronavirus, die Pandemie und ihre gesellschaftlichen Folgen als soziale und gesundheitliche Gefahr ernst. Gleichzeitig haben wir uns seit der Ausbreitung des Virus in Deutschland bewusst dazu entschieden, trotz und gerade wegen der Umstände unsere politische Praxis, unsere Stadtteilprojekte und den Zugang dazu aufrechtzuerhalten und auszubauen. Dazu haben wir zusammen mit einer Ärztin ein Hygienekonzept erarbeitet und umgesetzt.
Teil I
3. Etwas Grundlegendes zur Gesundheit
Die Frage der Gesundheit, der Impfpflicht und die damit einhergehenden Konsequenzen lassen sich nicht losgelöst vom Klassenkampf und den Ausbeutungsbedingungen beantworten. Bereits Marx und Engels wiesen in unterschiedlichen Schriften auf den Zusammenhang der Lebens-, Arbeits- und Wohnverhältnisse und den gesundheitlichen Konsequenzen als Ausdruck einer Form des Klassenkampfs hin.
Die Entkopplung der Frage nach der Impfpflicht aus dem „klassischen“ Repertoire des Klassenkampfs betrachten wir als falsch. Die gesundheitliche Situation vieler ArbeiterInnen befindet sich generell in einem Widerspruch zur bürgerlichen und herrschenden Klasse und damit auch in der Frage nach einer Impfpflicht.
Für uns befinden sich die ArbeiterInnen in zweifacher Hinsicht im Widerspruch: Auf der einen Seite durch die Lohnabhängigkeit und auf der anderen Seite durch die damit verbundenen gesundheitlichen Abhängigkeiten. Die Frage der Gesundheit ist auch heute noch abhängig vom sozioökonomischen Status der Menschen und entspricht ihrer Stellung im kapitalistischen Produktionsprozess. Damit stellt sich die Impfpflicht als Zuspitzung einer kontinuierlichen Abhängigkeit dar, die aufgrund der angedeuteten Widersprüche permanent besteht.
Durch die in den 1970er Jahren in der BRD einsetzende Privatisierung des Gesundheitswesens wurden (und werden) nach und nach vor allem ärmere Menschen von der gesundheitlichen Versorgung ausgeschlossen. Eine Entwicklung, die sich in der Corona-Pandemie verschärfte.
Wir unterscheiden die politische Beurteilung einer Impfpflicht strikt von einer medizinischen Beurteilung der Impfung an sich. Wir sind fachlich nicht in der Lage, medizinisch-wissenschaftliche Diskussionen über die Corona-Impfstoffe zu führen, aber wir können und müssen die staatliche Corona-(Impf-)Politik aus einem Klassenstandpunkt heraus kritisieren. Maßnahmen, die zum Schutz der ArbeiterInnen etc. beitragen, sind zu begrüßen. Die oben genannte doppelte Abhängigkeit bringt uns aber in ein alt bekanntes Dilemma: Während die herrschende Klasse uns auch nur soviel Lohn zahlt, damit es zum Überleben reicht und die Arbeitskraft Mensch gesichert ist, so gibt es auch nur so viel Gesundheit, um weiterhin Teil des kapitalistischen Produktionsprozesses zu sein. Karl Marx bringt es auf den Punkt, wenn er schreibt:
„Après moi le déluge! [Nach mir die Sintflut] ist der Wahlruf jedes Kapitalisten und jeder Kapitalistennation. Das Kapital ist daher rücksichtslos gegen Gesundheit und Lebensdauer des Arbeiters, wo es nicht durch die Gesellschaft zur Rücksicht gezwungen wird.“ (1)
Die Gesundheit der ArbeiterInnen bedeutet im Kapitalismus vor allem eins: Erhalt der Arbeitsfähigkeit. Kranke ArbeiterInnen sind ArbeiterInnen, deren Arbeitskraft sich der Ausbeutung entzieht und die das Sozialsystem „belasten“. Gute ArbeiterInnen sollen gesund sein, zumindest so gesund, dass sie zur Arbeit gehen und ausgebeutet werden können. Mit Blick auf die Gesundheit der Arbeiterklasse haben Staat und Kapital das gleiche Interesse: die Aufrechterhaltung von Arbeitskraft und Produktionsprozess. Gesundheit im Sinne von Wohlergehen und der Abwesenheit von Krankheit im eigentlichen Sinne ist dabei egal.
Seit Jahren rückt auch die geistige Gesundheit der ArbeiterInnen in das Interesse der Konzerne und des Staates. Das hat allerdings hauptsächlich etwas mit der Verschiebung von körperlicher zu geistiger Arbeit im Dienstleistungssektor und flexibilisierten Anforderungen am Arbeitsmarkt zu tun und ist somit auch kein Beleg für das Interesse an einer wirklich gesunden Arbeiterklasse.
Nur so kann man auch die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie verstehen. Mit Covid hat der Staat nicht plötzlich Sorge um die Gesundheit der Bevölkerung entwickelt. Er erfüllt lediglich die Aufgabe, die ihm seit jeher in der bürgerlichen Gesellschaft aufgetragen ist:
„Der Staat als ideeller Gesamtkapitalist, der den Eigentümern der Produktionsmittel allgemeine Voraussetzungen ihrer Konkurrenz bereitstellt, sorgt als Sozialstaat auch für die Erhaltung der Klasse, die keine Mittel hat, damit sie als Mittel des Eigentums tauglich ist.“ (2)
3.1 Die Frage nach der Klasse
Der Rote Aufbau Hamburg geht in seiner Stellungnahme davon aus, dass „unsere Klasse“ nicht an den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen beteiligt ist. Diese Argumentation eröffnet für uns wiederum die Frage, welche „Klasse“ sich denn sonst an diesen Protesten beteiligt? Die Klasse der Besitzenden ist es wohl kaum – zumindest nicht in Magdeburg.
Zur Begründung hierzu lesen wir:
„Unsere Klasse ist bei diesen Protesten kaum vertreten. Klar sind dort Teile aus dem Lumpenproletariat aktiv, aber ernstzunehmende Segmente beteiligen sich nicht, da die soziale Frage mit der Pandemie nicht verknüpft wird. Als Kommunist:innen laufen wir nicht jeder ‚Massen‘bewegung hinterher; es geht nicht darum ‚die‘ Leute zu gewinnen. Wir müssen unsere Klasse gewinnen, weil nur sie im Klassenkampf den antagonistischen Widerspruch in dieser Gesellschaft erkennt. Er verläuft eben nicht zwischen Geimpften und Ungeimpften, nicht zwischen Covidioten und Systemlingen.“
Wir können an dieser Stelle nur bestätigen, als KommunistInnen laufen wir nicht jeder Massenbewegung hinterher. Allerdings ist es aber auch genau die Aufgabe der KommunistInnen, die Pandemie und deren Auswirkungen mit der sozialen Frage zu verknüpfen. Unserer Einschätzung nach wird sozialer Protest nie in Reinform auftreten, der sich automatisiert in den Dienst des Klassenkampfes stellt und für den Kampf des Kommunismus einsetzt.
Selbst bei „klassischen“ sozialen Protesten, wie den Hartz IV-Protesten, ist deutlich zu Tage getreten, dass es die gesellschaftlichen Auswirkungen auf den Einzelnen sind, die die Menschen auf die Straße treiben. Und selbst bei so eindeutig sozialen Protesten mussten sich AntifaschistInnen immer gegen Nazis behaupten.
Mit der Einführung solch weitreichender Maßnahmen wie Hartz IV oder auch den Corona- Maßnahmen wird der soziale Status quo in Frage gestellt – sowohl von Seiten der Herrschenden als auch auf Seite der Protestierenden.
Die einen wollen mehr Profit, die anderen wollen ihren aktuellen Lebensstandard erhalten. Der soziale Frieden wird gestört, die Folge ist sozialer Protest. Objektiv betrachtet kann nur „unsere Klasse“ auf den Straßen vertreten sein, denn „unsere Klasse“ wird zum einen durch die Klasse an sich bestimmt, eben jener Menschengruppe, die keinen Anteil an den gesellschaftlichen Produktionsmittel besitzt.
Anders verhält es sich mit der Konstruktion der Klasse für sich. Die Proteste sind in ihrer Zusammensetzung durch Heterogenität gekennzeichnet. Unterschiedliche gesellschaftliche Spektren bringen dort ihre teils gegensätzlichen Interessen und Ideen zum Ausdruck.
Dass dabei die Faschisten ihrer Rolle in der bürgerlichen Gesellschaft treu bleiben und im Dienste des Kapitals agieren, ist absolut keine neue Erscheinung. Sie versuchen dem Protest einen chauvinistischen, nationalistischen und staatstragenden ideologischen Überbau zu geben. Darüber hinaus werden Nazis als Fußtruppen von Teilen der Bourgeoisie eingesetzt. Verschwörungstheoretiker und Corona-Leugner entziehen sich ebenfalls der Klasse für sich. Im Text des Roten Aufbaus Hamburg wird dieser Fakt zwar artikuliert,
„Die AfD ist auch nicht zufällig die parlamentarische Stimme dieser Bewegung, sondern betreibt Klientelpolitik. Sie ist es eben, die die nationalistischen Teile der Liberalen, Konservativen und die völkische Bewegung vertritt.“
allerdings nicht ins Verhältnis zur Funktion für das Kapital gesetzt. Während sich faschistische Strukturen an den Protesten beteiligen, wird zum einen die Rolle der Faschisten durch ihre mediale Überpräsenz überhöht und gestärkt. Zum anderen wird so auf eine „demokratische Art und Weise“ der Protest als Ganzes delegitimiert. Diese Entwicklung mündet mittlerweile darin, dass Teile der Linken selbst die harte Hand des Staates fordern, um die Proteste zu unterbinden.
Eine weitere Gefahr sehen wir darin, die Proteste als „vor allem daher individualistisch und bürgerlich“ abzuurteilen. Sicherlich bestehen signifikante regionale Unterschiede, allerdings verkennt diese Aussage die ökonomische Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Nach 30 Jahren Sozialabbau im Osten ist die breite bürgerliche Mittelschicht eher Mythos als Realität.
Auf diese Form der „Proletarisierung“ folgt nicht automatisch ein revolutionäres Klassenbewusstsein. Vielmehr dominieren moralisch begründete Formen bürgerlicher Sozialkritik. Ein Zurückgreifen auf konservative, reaktionäre Krisenantworten scheint vielen Protestierenden daher nur als logisch und alternativlos – nicht zuletzt aufgrund der Abwesenheit einer klaren klassenkämpferischen, linken Perspektive.
3.2 Zum Kleinbürgertum
Das Kleinbürgertum ist in ostdeutschen Regionen nicht pauschal mit dem Westdeutschen zu vergleichen. Das Kleinbürgertum im Osten ist weitaus schwächer vertreten, die Widersprüche dafür deutlicher. Als Klasse zwischen den Kapitalisten und dem Proletariat ist das Kleinbürgertum in vermeintlichen Harmoniephasen Nutznießer des Klassencharakters der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft. Jedoch ist das Kleinbürgertum den sozialen und ökonomischen Auswirkungen von Kapitalismus und Pandemie in allen seinen Facetten ebenso unmittelbar unterworfen. Es kann in solchen Krisenzeiten die Tatsache des Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat genauso wenig wie den eigenen sozialen Abstieg verleugnen. Ihr Klasseninteresse fällt nicht nur, aber in Krisenzeiten weitaus deutlicher, mit denen des Proletariats zusammen. Das zwar lediglich partiell, trotzdem sind sie in diesem Moment Teil der Klassenauseinandersetzung auf der Straße.
Dem Chauvinismus, Nationalismus und Rassismus gilt es die proletarische Klassensolidarität entgegenzustellen. Die gleichzeitige Aufdeckung des Klassencharakters der Gesellschaft ist unser Programm um die proletarischen Teile dieser Proteste zu erreichen.
Aus unserer Sicht findet nicht nur in Ostdeutschland eine „Proletarisierung“ des sogenannten Mittelstands/Kleinbürgertum statt. Die Rufe nach Freiheit können von uns zum einen als Ausdruck neoliberaler Ideologie-Fragmente interpretiert werden. Wir verstehen sie aber auch als Unfähigkeit, Klassenwidersprüche deutlich zu erkennen und den eigenen sozialen Abstieg in soziale Forderungen zu transportieren. Gefangen in ihren kleinbürgerlichen Werte- und Moralvorstellungen von Volk, Arbeit und Freiheit äffen sie in ihren Parolen eine profitierende Klasse nach, zu der sie aber größtenteils nicht mehr gehören oder auch nie gehört haben. Hier übernehmen Faschisten ganz klar die Rolle, ideologisch anzudocken und die Proteste für sich zu vereinnahmen – gerade auch im Hinblick des Fehlens an bedeutenden antifaschistischen und klassenkämpferischen Gegenpositionen.
3.3 Kein Schulterschluss der Linken mit der herrschenden Ordnung!
Die Auseinandersetzung um die Corona-Impfpflicht nicht als eine Form des Klassenkampfs zu betrachten, verkennt die gesellschaftlichen Grundlagen, in denen wir leben. Für uns entsteht der Eindruck, dass es auch für die Linke jetzt schnell gehen muss. Durch die rasche Einführung der Impfpflicht könnten die Corona-Maßnahmen vermeintlich früher beendet werden, um sich dann wieder die Straße zu erobern und zum eigentlichen Kampf zurückzukehren.
Ein Trugschluss, wie wir finden. Denn eine Impfpflicht impliziert nicht nur eine Impfung an sich, sondern setzt sich aus einer Vielzahl an gesellschaftlichen Maßnahmen zusammen. Was passiert mit Menschen ohne Papiere und ohne Wohnung? Was passiert mit Menschen ohne Zugang zum Gesundheitssystem? Was passiert mit ungeimpften KollegInnen? Was passiert mit den geimpften KollegInnen, die die Arbeit der gekündigten ungeimpften KollegInnen übernehmen müssen? Wie wird die Impfpflicht kontrolliert, beziehungsweise umgesetzt? Was passiert mit den Einrichtungen der Gesundheitsversorgung, wenn immer mehr KollegInnen ihren Beruf verlassen?
Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit haben sich aus dem Gesundheits- und Sozialsektor im Dezember und Januar 2022 25.000 mehr Menschen arbeitssuchend gemeldet als üblich, davon 12.000 aus der Pflege. Laut städtischem Gesundheitsamt müssten in Magdeburg ca. 1500 Pflegekräfte gekündigt werden.
Mal ganz abgesehen von verfassungsrechtlichen Bedenken machen die angedeuteten Fragestellungen deutlich: mit einer Impfpflicht kommen nicht nur weitere Repressions- und Überwachungsmaßnahmen auf uns zu, der Konkurrenzdruck unter ArbeiterInnen verschärft sich und somit spitzen sich die Ausbeutungsbedingungen weiter zu. Ist es das, was wir als Linke wollen?
Dazu kommt, dass ideologisch gefestigte Impfgegner in der Regel deutschstämmig sind. Währenddessen sind Ungeimpfte aus migrantischen Communities meist ohne grundsätzliche Vorbehalte gegen die Impfung – hier spielen oft Sprachbarrieren, aber auch Diskriminierungserfahrungen eine Rolle. Dies ergab zumindest eine Studie des Robert-Koch-Instituts (RKI). „Je häufiger Diskriminierung im Gesundheits- oder Pflegebereich erlebt wurde, desto eher sind Personen ungeimpft“, heißt es darin. (3)
Die gesellschaftlichen Konsequenzen einer Impfpflicht sind z.B. Überwachungs- und Kontrollmechanismen bis hin zum Einsatz von Polizei und Militär im Inneren. Dazu kommt die Verdichtung der Arbeit, eine Verlängerung der Arbeitszeiten sowie beachtliche Geldstrafen. Konsequenzen, die für unsere Klasse erhebliche Auswirkungen nach sich ziehen. Schon jetzt ziehen linke Szenelokale oder Festivals beim Thema Ausweiskontrollen und Datenabgabe am deutschen Staat rechts vorbei. Das Maß an gesellschaftlicher Überwachung, welches mit der Impflicht unweigerlich einhergeht, wird auch „nach“ der Pandemie nicht einfach verschwinden. Es besteht das Risiko einer weiteren Gewöhnung und Normalisierung von Kontrollen im öffentlichen Raum.
Diese Auswirkungen bewusst zu ignorieren, herunter zu spielen oder gar zu leugnen, heißt soziale Repression zu legitimieren, noch dazu in einem kapitalistischen Kontext. Schon aus diesem Grund ist beispielsweise ein Vergleich mit Impfkampagnen in sozialistischen Ländern wie Kuba Augenwischerei. Wer würde auf Kuba im Falle einer dortigen Impfpflicht seine Existenzgrundlage verlieren?
Teil II
In unserem zweiten Teil gehen wir nun konkret auf die Montags-Demonstrationen in Magdeburg ein und stellen Euch hierbei unsere Diskussionen zur Verfügung.
4. Wer ist da auf der Straße?
Die Aussage „Wer mit Nazis marschiert ist selber Nazi“ reicht für eine Analyse des Klassencharakters und der Zusammensetzung der „Corona-Demos“ nicht aus. Auf Montags- Demonstrationen kamen in Magdeburg in der Hochphase wöchentlich tausende Menschen unangemeldet und selbstorganisiert auf die Straße.
Für uns sind die Proteste als ganzes ein Ausdruck von Widerstand gegen eine ökonomische Krise, die sich in der Pandemie objektiv verschärft hat und sich auch weiterhin verschärfen wird. Wir sehen (drohenden) wirtschaftlichen Abstieg nicht als den Auslöser, aber als eine Ursache für die sozialen Proteste, welche Montags-Demos genannt werden. Aus dem gleichen Grund hat die AfD im Osten ihre stärksten Verbände, sie inszeniert sich als Anwältin des Osten und treibt einen konservativen Rollback voran.
Die soziale Abwärtsentwicklung mit einhergehender Anti-Establishment-Haltung ist nicht neu in Sachsen-Anhalt. Sie spiegelt sich unlängst bei den Landtagswahlen 2021 wieder. 20,9% AfD-WählerInnen und 39,7 % NichtwählerInnen belegen deutlich das Misstrauen in die Lösungsversprechungen der etablierten Parteien.
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf beträgt in Sachsen-Anhalt 28.880€ (Hamburg 66.878€). Beim Index der menschlichen Entwicklung rangiert Sachsen-Anhalt deutschlandweit auf dem letzten Platz – gleichauf mit Slowenien (Hamburg gleichauf mit Norwegen). (4)
Die Pandemie und die vermeintliche Inkompetenz der Politik wirken zu dieser Situation zusätzlich wie ein Verstärker. Die soziale Sprengkraft ist im Osten besonders ausgeprägt.
4.1 Sind Querdenken- und Montagsdemonstrationen in Ostdeutschland das Gleiche?
Die Montagsdemos (sog. Spaziergänge) pauschal mit den organisierten Protesten des Vereins Querdenken oder gar einer faschistischen Demonstration gleichzusetzen, entspricht einem unklarem Verständnis über den Charakter beider Mobilisierungen. Außerdem nutzt es den Faschisten, ihre Rolle bei den Protesten zu überhöhen und in den Kanon der bürgerlichen Presse einzusteigen. Zusätzlich demoralisiert diese Dämonisierung fortschrittliche Kräfte und schreckt sie davon ab, vor Ort zu intervenieren.
Wir behaupten nicht, dass jede Montagsdemonstration in jedem Ort gleich ist und ähnliche Möglichkeiten zur Intervention bietet. Das muss vor Ort genau analysiert und eingeschätzt werden. Wir sagen nicht, dass solche Interventionen andere Klassenkämpfe und eigene Mobilisierungen ersetzen. Unsere Absicht war es von Anfang an die politische Hegemonie der Faschisten dort zu brechen. Das Ziel muss es sein, reaktionäre Kräfte entweder zu verdrängen oder zumindest die Bewegung lokal zu fraktionieren. Dass das möglich ist, haben wir in Magdeburg durch antifaschistische Kämpfe 2004 auf den damaligen Anti-Hartz IV-Demonstrationen erfahren können. Hier war es gelungen, mittels entschlossener Aktionen und Druck auf die Organisatoren die Faschisten aus den Montagsprotesten heraus zu drängen und zu isolieren. Auf Magdeburger Montagsdemos liefen dann keine organisierten Faschisten mehr mit. Damals waren bis zu 10.000 Menschen in Magdeburg auf der Straße.
Neofaschisten versuchten Einfluss zu gewinnen, wurden aber nicht akzeptiert. Es gelang ihnen zwar, sich während einer Demo kurzfristig an die Spitze zu setzen. Das Bild von einer Masse, die den Nazis hinterherläuft, war aber falsch. Antifaschistische Jugendliche wiesen diese brutalsten Verteidiger des Kapitalismus in die Schranken (körperlich und aufklärerisch).
Wenn sich eine Massenbewegung, wie beispielsweise die Montagsdemonstrationen, im Kontext einer sozialen Frage formiert, gilt es reaktionäre Krisenantworten zurückzudrängen.
Die pauschale Gleichsetzung von Montagsdemos und Querdenken ist inhaltlich unscharf.
Wir würden uns nicht an einem von Querdenken organisierten Protest beteiligen. Doch die Protestbewegungen und Dynamiken sind nicht nur von Ost zu West unterschiedlich, sondern gar von Ort zu Ort. Das gilt es zu analysieren, um Interventionsmöglichkeiten aufzuzeigen.
4.2 Querdenken
Wir halten fest, dass nicht alle BesucherInnen der Querdenken-Proteste als Nazis abgestempelt werden dürfen. Querdenken entstand als westdeutscher Zusammenschluss von bürgerlich-konservativen Kräften, Impfkritikern, esoterischem Klientel, fundamentalistischen Christen und rechten Strukturen gegen die allgemeinen Corona-Maßnahmen. Sie vereinten von Coronaleugnern bis hin zu Maßnahmen-Kritikern viele Spektren. Konkrete Kritik an dem Infektionsschutzgesetz an sich ist legitim, gar notwendig, was aber bekannte Querdenker daraus machen und ableiten ist falsch. Querdenken stellt praktisch eine Plattform dar, in der sich unterschiedliche, häufig reaktionäre Strömungen organisiert wiederfinden. Faschisten und Reaktionäre nutzen diese Plattform, um ihre menschenverachtende Ideologie zu propagieren. Den Stellenwert, den Querdenken im Westen hat, konnte im Osten lediglich durch Ideologietransporte, nicht aber organisatorisch erreicht werden.
Hier dominieren Faschisten und die AfD die reaktionären Krisenantworten. Für größere Querdenken-Veranstaltungen waren gemeinsame Mobilisierungen aus dem Westen in den Osten notwendig, wie beispielsweise nach Leipzig oder Magdeburg. Nicht im Ansatz jedoch waren lokale „Hygiene-Demos“ im Sommer 2020 in Magdeburg so erfolgreich wie in Baden Württemberg. Hier versammelten sich wenige Maßnahmen-Kritiker, Verschwörungs-Verwirrte, Faschisten und Reichsbürger. Zu klein ist die Basis der lokalen Esoteriker oder konservativen Christen in Magdeburg bzw. dem Osten.
4.3 Montagsdemonstrationen
Die momentanen Montagsdemonstrationen entstanden in einem Spektrum der sozialen Auseinandersetzung um die Corona-Maßnahmen. Ganz konkret entzündeten sie sich im Dezember 2021 in Sachsen-Anhalt an der Frage der allgemeinen Impflicht sowie der 2G- und 3G-Regeln.
Die Kultur der Montagsdemos entstand innerhalb der DDR und erlebte eine Renaissance mit der Einführung der Hartz IV-Gesetze. Hier wurde durch das klare soziale Thema der Anti-Hartz IV-Proteste deutlich, dass die Montagsdemos eine Protestkultur einer breiten Schicht der lohnabhängigen Klasse sind. Montagsdemonstrationen werden entweder von reaktionären oder fortschrittlichen Kräften mit Krisenantworten beliefert.
War der Einfluss der PDS und antifaschistischer Kräfte damals auf Montagsproteste noch groß, sind es heute die AfD und andere Reaktionäre und Faschisten, welche die Akzente und Argumente vorgeben. Die linken und bürgerlichen Kräfte stehen ihnen nur noch als antifaschistischer Protest gegenüber.
Die in Ostdeutschland entstandene Pegida-Bewegung schaffte es mit den Montagsmobilisierungen an die Tradition dieser Protestform anzudocken und trug zum Aufstieg der AfD bei.
Die neusten Montagsmobilisierungen in Magdeburg kommen im Kern Graswurzel-Mobilisierungen nahe. Sie diskutieren und verabreden sich in Chats wie Telegram und kommen auf den Straßen zusammen. Das verbindende Element vieler verschiedener Spektren ist die Kritik an den Corona-Maßnahmen. Auf der Straße und auch virtuell wird dann durch die organisierten Kräfte wie AfD, III. Weg, Neue Stärke, o.Ä. versucht, die Mobilisierungen für sich zu vereinnahmen und sie politisch in ihrem Sinne zu charakterisieren. Das gelingt aber nachweislich nicht bei allen DemonstrantInnen. So versuchten wenige Faschisten in Magdeburg die erste Montagsdemo 2021 mit mehreren tausend Menschen für sich zu vereinnahmen.
„Insgesamt seien aber Menschen aus unterschiedlichen Milieus auf den Straßen gewesen – mit ganz unterschiedlichen Interessen“ – sagt sogar der Querfront unverdächtige Rechtsextremismus-Experte David Begrich.
Faschisten und sogenannte Hooligans versuchen, den heterogenen Protest auf der Straße zu beeinflussen und gegen die Polizei durchzusetzen. Diese Rolle kann und sollte aber von antifaschistischen Kräften eingenommen werden – wenn die Linke die Kritik an den Corona- Maßnahmen und ihren Auswirkungen auch als soziale Frage verstehen würde. Zudem müsste sie offensiv genug sein, um die politische und vor allem die praktische Machtfrage gegen die Faschisten auf der Straße zu stellen. Dadurch würde der Protest nicht automatisch fortschrittlich werden, doch reaktionäre Krisenantworten würden zurückgedrängt werden.
5. Bewegung kommt von »bewegen«
Wir teilen den Anspruch des Roten Aufbaus, eine Bewegung aufzubauen. Doch denken wir nicht, dass dies etwas statisches ist, ohne Fehler und ohne Rückschläge.
Als Teil der Linken, die sich in einer historischen Krise in der Defensive befindet, müssen wir nach Wegen suchen, um uns an aufkeimenden sozialen Kämpfen zu beteiligen. Uns muss auch klar sein, dass eine fehlende Intervention bei diesen Protesten langfristig die Position der Faschisten nur weiter stärken wird. Das heißt, dass es immer schwieriger wird in solche Protestbewegungen zu intervenieren.
„Von einigen wird eine Parallele zu den Gelbwesten gezogen. In Frankreich haben Antifas bei den Gelbwestenprotesten interveniert und die Nazis in verschiedenen Städten vertrieben, doch muss man diese beiden Bewegungen voneinander unterschieden. Während die Gelbwesten in erster Linie eine soziale Bewegung waren, die sich gegen die Preiserhöhungen vor allem von Benzinpreisen richteten, sind die Coronaproteste hierzulande im weitesten Sinne für bürgerliche Freiheiten“.
Dem widersprechen antifaschistische Akteure aus Frankreich (Lyon) konkret mit Blick auf die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen wie dem Gesundheitspass:
„Ein anfänglicher Aufstand außerhalb der traditionellen Zwangsjacke sozialer Bewegungen ist spürbar. Vor einigen Jahren zeigte sich ein Teil der Linken verwirrt und gar hochmütig über die Gelbwestenbewegung. Doch es war der Funke, der eine der größten sozialen Revolten hervorbrachte und die Türen der Macht erzittern ließ. Natürlich muss unser soziales Lager sich vor opportunistischen Infiltrationen und Erholung der extremen Rechten hüten, aber diese Bewegung nicht zu unterstützen, bedeutet, unsere Überzeugungen zu verraten und sich in puristischer Haltung zu sperren. Diese Skepsis hätte fast einen schweren Fehler während der Bewegung der Gelbwesten verursacht. Eine solche Bewegung zu verlassen bedeutet, den rechtsextremen Ideen frei zu lassen. […] Wenn man sich nicht mit derselben Inbrunst in die sich abzeichnende Bewegung einlässt, heißt zu verleugnen, dass unsere Fantasie noch mit Praktiken und Wissen bereichert werden können…“ (5)
Wir von Zusammen Kämpfen bemühen uns um eine Einheit von Theorie und Praxis, von Analyse, Kritik und Aktion. Zum einen handeln wir nicht aus einem Bauchgefühl heraus, sondern haben den Anspruch, politische und gesellschaftliche Zustände und Entwicklungen aufgrund materialistischer Analysen zu beurteilen. Daraus leiten wir unsere Praxis ab. Wir wollen uns zu Entwicklungen wie den Montags-Protesten verhalten. Das heißt aber auch, sich aus einer linken Wohlfühlzone herauszubegeben. Es gilt sich nun in Kontroversen und Widersprüche zu begeben und für unsere Standpunkte zu streiten.
Das bedeutet, sich gegen faschistische und reaktionäre Standpunkte zu stellen und ihre Protagonisten auf Montagsdemos zurückzudrängen. Ihren Krisenantworten muss widersprochen werden, dort wo sie den Menschen angeboten wird. Das geschieht aber nicht auf einer von Polizisten geschützten Gegendemonstration oder auf isolierten Kundgebungen, auf denen es kaum Kontroversen über den Szenekonsens hinaus kommt.
Unser Text ist Ausdruck vieler interner und kollektiver Diskussionen, viele Aspekte haben wir ausgespart, vieles müsste noch gesagt werden. In Anbetracht der historischen Defensive und der Zersplitterung der Linken rufen wir zu einem gemeinsamen Diskurs auf, um den verschiedenen Fragen und Herausforderungen als revolutionäre Linke gerecht zu werden. Wir wollen uns nicht in ewigen Texten verlieren, vielmehr wollen wir eine inhaltliche Basis für eine gemeinsame Praxis schaffen. Wir sind davon überzeugt, dass sich die Krise verschärfen und damit neue Protestwellen hervorrufen wird – Wie werden wir uns als Linke dazu verhalten?
Um uns dieser Frage zu nähern, erarbeiteten wir ein Fragen- und Thesenpapier um über unsere Strukturen hinaus in die Diskussion zu kommen. Wir würden unsere Fragen gern mit interessierten GenossInnen, Gruppen und Strukturen teilen, diskutieren und eine Praxis entwickeln. Wenn ihr Interesse an einem gemeinsamen Diskurs habt, dann schreibt uns einfach eine E-Mail.
Zusammen Kämpfen – Für eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung!
Links
(1) Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1, MEW 23, Berlin 1962
3) https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Projekte_RKI/ COVIMO_Reports/covimo_studie_bericht_9.pdf?__blob=publicationFile
(4) https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_deutschen_Bundesl %C3%A4nder_nach_dem_Index_der_menschlichen_Entwicklung